Foltervideos, Kinderpornografie, Mobbing: Hilft da wirklich ein Smartphone-Verbot für Kinder, Frau Müller?
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Kinder sehen in ihrem digitalen Alltag viele verstörende Inhalte, berichtet Schulleiterin Silke Müller.
© Quelle: Imago/Illustration: Gina Patan
Silke Müller, als Schulleiterin mussten Sie schon viele grausame Videos und Bilder sehen, die auf den Smartphones von Schülerinnen und Schülern kursieren. Gibt es einen Fall, von dem Sie besonders schockiert waren?
Das ist schwer zu sagen, weil die Dimensionen der Fälle so unterschiedlich sind. Aber manche waren wirklich besonders schwer zu ertragen: In einem Fall ging es um einen virtuellen Sticker, in dem ein junges Mädchen gezeigt wurde, das von zwei Männern missbraucht wird. Und ein Video zeigte einen gefesselten Mann, der bei lebendigem Leibe mit einem Skalpell kastriert wurde. Kinder fragten mich, ob das alles echt sei – und natürlich ist das echt. Für Erwachsene sind solche Bilder und Videos schon schockierend, aber noch schlimmer ist es, dass Kinder so etwas sehen.
Was macht das mit den Kindern?
Einige reagieren sehr schockiert, können das noch gar nicht so richtig verarbeiten. Ich erlebe aber auch immer wieder, dass Kinder bereits von solchen Inhalten abgestumpft sind, weil sie ständig so etwas zu sehen bekommen. Auch bei mir stelle ich langsam einen Verrohungsprozess fest.
Woher kommen diese ganzen Inhalte überhaupt?
Die besonders krassen Inhalte kommen oft aus dem Darknet. Leider ist es gar nicht so schwierig, dorthin zu gelangen – technikaffine Schülerinnen und Schüler können das mit verhältnismäßig geringem Aufwand schaffen. Es gibt leider auch immer wieder Fälle, in denen Kinder in großen Gruppen auf Whatsapp aufgenommen werden, deren Administratoren eine Fake-Nummer haben. Auch dort werden jugendgefährdende Inhalte gepostet.
Sicherlich sind aber nicht alle Kinder im Darknet oder in solchen Gruppen unterwegs. Wie kommen die anderen an diese Videos und Bilder?
Kinder teilen sie mit der Klasse in Whatsapp-Gruppen, auf Snapchat und Tiktok oder auch per Airdrop auf ihren Iphones. Gerade Letzteres bereitet mir Sorgen. Bei Webseiten habe ich immer die Wahl, ob ich rein oder rausgehen möchte. Doch wenn Kinder morgens im Bus sitzen, während jemand etwas per Airdrop teilt, und sie es annehmen, ist der Inhalt sofort in der Galerie gespeichert und wird direkt angezeigt oder abgespielt. Das heißt, sie haben gar nicht mehr die Wahl, ob sie es sehen wollen oder nicht.
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Silke Müller ist Leiterin der Waldschule Hatten im Landkreis Oldenburg und seit 2021 die erste niedersächsische Digitalbotschafterin. Mit ihrem Sachbuch „Wir verlieren unsere Kinder“ will die Pädagogin Silke Müller nach eigenen Angaben Eltern, Lehrer und die Politik wachrütteln.
© Quelle: Sina Schuldt/dpa
Sie beschreiben in Ihrem Buch („Wir verlieren unsere Kinder“, Droemer-Verlag) viele erschütternde Fälle. Ist das repräsentativ, sprich: Geht es Kindern in allen Schulen in Deutschland so?
Ja, das betrifft aus meiner Erfahrung jede Schulform, jede Region, jede Altersklasse – und zwar fast täglich. Wir haben in unserer Schule eine sehr offene Gesprächskultur, wir bieten zum Beispiel auch eine Social-Media-Sprechstunde an, in denen uns Kinder Probleme anvertrauen, die sie auf sozialen Netzwerken erleben. Manchmal kommen Kinder auch direkt mit solchen Fällen auf mich zu, deswegen erfahre ich oft von den Inhalten, die im Umlauf sind. Allein seitdem ich mein Buch zu Ende geschrieben habe, sind wieder zahlreiche neue Fälle hinzugekommen.
Zum Beispiel?
Ein Riesenthema war in den vergangenen Monaten das Verschicken von Nacktbildern von Schülerinnen und Schülern. Oft fängt es damit an, dass sich zwei Schülerinnen und Schüler im Chat unterhalten. Irgendwann sagt eine oder einer zum Beispiel: „Schick doch mal ein schönes Foto von dir, in dem du dich anfasst.“ Das wird inzwischen sehr schnell auch getan. Schief geht es dann, wenn es zu einem Konflikt zwischen den beiden kommt. Eine oder einer ist sauer und schickt das Foto dann gezielt an andere, bis es irgendwann alle in der Schule haben.
Wissen die Kinder, dass Kinderpornografie strafrechtliche Konsequenzen hat?
Vielen Kindern wird erst durch ein Gespräch bewusst, dass sie Mist gebaut haben. Sie sind oft sehr traurig und betroffen, wenn sie das realisieren. Wir dürfen Kinder zwar nicht kriminalisieren, aber bei strafrechtlich relevanten Fällen müssen wir jedoch die Polizei einschalten und auch die Eltern mit einbinden. Das ist wichtig, damit wir ein klares Zeichen gegen Kinderpornografie setzen und die Kinder verteidigen, deren Videos und Bilder geteilt werden. Wir gehen dabei aber vorsichtig vor, um die ohnehin schon belasteten Kinder etwas zu entlasten – gerade wenn die Eltern darüber informiert werden, ist das für sie sehr unangenehm. Erst reden wir mit den Eltern allein, bitten sie dann zum gemeinsamen Gespräch mit den Kindern und anschließend mit der Polizei.
Es muss aber auch für die Eltern schwierig sein, so etwas über ihre Kinder zu erfahren.
Ja, sie reagieren dann meist unglaublich schockiert – denn oft ist ihnen gar nicht im Detail bewusst, was auf den Handys ihrer Kinder passiert.
Bereiten Eltern ihre Kinder ausreichend auf den Umgang mit Smartphones und Social Media vor?
Es gibt immer wieder Fälle, in denen Mama und Papa eigentlich alles richtig gemacht haben, zum Beispiel mit ihrem Kind über den richtigen Umgang mit einer Plattform geredet haben und einen offenen Austausch darüber anbieten – und es ging trotzdem schief. Manche Eltern waren dagegen fest der Meinung, ihre Kinder machen so etwas nicht. Leider gibt es aber auch Eltern, die nicht genug auf ihre Kinder achten oder für sie da sind. Sie kommen auch nicht zu Elternabenden und reagieren nicht auf Anrufe. Wieder andere Eltern wollen ihre Kinder ganz von Smartphones fernhalten und alles reglementieren.
Also ein Smartphone-Verbot. Ist das denn die Lösung?
Ich finde, wir haben gesellschaftlich einen folgenschweren Fehler gemacht, als wir es zugelassen haben, dass Kinder schon im Grundschulalter ein Handy mit Internetzugang bekommen. Dahinter steckte die Haltung, dass das Kind immer erreichbar sein muss. Natürlich ist es verständlich, dass Eltern Angst davor haben, dass ihren Kindern etwas zustößt – aber davor schützt das Smartphone nicht. Wenn ein Gewalttäter sie angreift, ist das Smartphone das Erste, das die Täterin oder der Täter entsorgt. Inzwischen ist das Smartphone nun zum festen Bestandteil der Kinder- und Jugendkultur geworden. Und es liegt jetzt an uns Erwachsenen, Kinder vor den großen Gefahren zu schützen – idealerweise mit einem Smartphone-Verbot für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren, auch wenn ich weiß, dass das natürlich vollkommen illusorisch ist.
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Silke Müller: „Wir verlieren unsere Kinder. Der verstörende Alltag im Klassen-Chat“. Droemer-Verlag, 22 Euro.
© Quelle: Droemer Verlag/dpa
Die Forderung nach einem Smartphone-Verbot für Kinder gibt es schon länger, allerdings halten das einige Fachleute für den falschen Weg.
In der Diskussion wird immer wieder versucht, Smartphones und Plattformen wie Tiktok als positiv darzustellen und die Kreativität oder sogar den Lerneffekt zu betonen. Diese Seite sehe ich natürlich auch, zumal ich mich stets für Digitalisierungsprozesse in meiner Arbeit einsetze. Aber wir hinken immer hinter den Gefahren hinterher und kriegen sie einfach nicht unter Kontrolle. Das gilt auch für Cybermobbing oder Cybergrooming – also wenn Erwachsene im Netz gezielt nach Minderjährigen suchen und Vertrauen aufbauen, um sexuelle Übergriffe vorzunehmen. Deswegen sind Beschränkungen für mich im Moment unabdingbar, auch wenn mir dafür wahrscheinlich Zensur vorgeworfen wird. Wenn wir es wirklich ernst mit dem Schutz unserer Kinder meinen, müssen wir zumindest diese Debatte aufmachen. Wenn wir ein Smartphone-Verbot durchsetzen könnten, wäre das aus meiner Sicht ein erster großer Schritt in Richtung Heilung.
Der Umgang mit Social Media unter Kindern und Jugendlichen war im Zuge der schockierenden Gewalttaten unter Jugendlichen wieder Thema, die zuletzt für viel Aufsehen in der Öffentlichkeit gesorgt haben. Welche Rolle spielen soziale Netzwerke aus Ihrer Sicht bei diesen Fällen?
Ich kann natürlich nicht bewerten, inwiefern es einen Zusammenhang zwischen diesen Taten und Social Media gegeben hat. Aber dass Social Media eine große Rolle spielt, sollte uns allen klar sein: Als mehrere Mädchen im März in Schleswig-Holstein eine 13-Jährige schlugen und demütigten, filmten sie das und stellten es ins Netz. Und nach dem schrecklichen Mord an Luise F. in Freudenberg dauerte es keinen Tag, bis die Tiktok-Accounts der Täterinnen in großem Stil entdeckt, Bilder von Luise veröffentlicht wurden und eine Hetzjagd auf die Täterfamilien begann. Das haben unzählige Kinder miterlebt. Wir dürfen Social Media nicht unterschätzen, und ich würde es fahrlässig finden, wenn wir die Diskussion nicht führen.
Sie gehen sogar so weit zu sagen: „Wir verlieren unsere Kinder.“ Das klingt erst mal nach einer steilen These – was meinen Sie damit?
Ich würde gern in den Ring steigen und sagen: Es ist keine steile These. Ich habe diesen provokanten Titel für mein Buch gewählt, um zu zeigen, wie dramatisch die Situation ist. Zum einen schaffen wir es häufig nicht mehr, Kinder zu charakterlich starken Menschen zu machen, die nicht mehr abhängig von Likes und den Kommentaren anderer sind und denken, dass sie ohne all das nichts wert sind. Zum anderen verlieren wir sie als resiliente, tolerante und respektvolle Menschen, wenn wir sie mit ihren Smartphones und Plattformen alleinlassen.
Was brauchen Kinder also jetzt?
In erster Linie brauchen sie ganz viel Liebe, Verständnis und offene Ohren. Das ist meiner Meinung nach das Allerwichtigste. Dafür braucht es in den Schulen ganz viel Empathie, aber auch eine Gesellschaft, die sich der Gefahren überhaupt erst mal bewusst ist – und vor allem Verantwortung für die Situation der Kinder übernimmt. Wir können nicht einfach sagen, dass Kinder die ganze Zeit im Netz rumhängen und dort nur Mist bauen. Wir Erwachsenen sind die allerschlimmsten Vorbilder im Netz, was die Rede und das Teilen von gefährlichen Inhalten angeht – wir haben es mit den Kindern verbockt, wir haben ihnen die Smartphones gegeben. Und wir müssen etwas ändern.
Dafür bräuchte es radikale Änderungen. Was können Eltern aber jetzt schon tun, um ihre Kinder zu schützen?
Eltern sollten sich wenigstens über die Plattformen, die ihre Kinder nutzen, und ihre Gefahren informieren. Es gibt unglaublich viele Initiativen, die kostenlos im Internet Hilfestellung leisten: Klicksafe zum Beispiel. Und ich plädiere stark für Gesprächsoffenheit: Eltern sollten mit ihren Kindern offen und ehrlich im Austausch über die Plattformen bleiben und klare Regeln zur Nutzung festlegen – und zwar spätestens zu dem Zeitpunkt, ab dem das Kind zum ersten Mal ein Smartphone nutzt. Wenn Eltern es schaffen, zu einer engen Vertrauensperson, zum Partner für die Kinder zu werden, gleichzeitig aber zu Erziehenden, die klare und transparente Regeln setzen, können sie ihren Kindern am besten zur Seite stehen.