Apotheken müssen improvisieren

„Versorgung fragil“: Antibiotikaknappheit in den Apotheken

Mangelware Amoxicillin: Bei den Lieferanten der Präparate des Antibiotikums gibt es Lieferengpässe. Die Apotheken improvisieren, so gut es geht.

Mangelware Amoxicillin: Bei den Lieferanten der Präparate des Antibiotikums gibt es Lieferengpässe. Die Apotheken improvisieren, so gut es geht.

Ein Tweet, der beunruhigend klang, aufhorchen ließ. Auch weil er fatalistisch mit „Game over“ abschloss. Das beendete „Spiel“, um das es dem Absender ging, war Europas Mitwirken an der Produktion von Antibiotika, also den Arzneien im Kampf gegen bakterielle Infektionen. „Die letzte europäische Produktionsstätte für Antibiotika könnte wegen explodierender Energiepreise und des Preisdumpings der Krankenkassen bald schließen“, hieß die düstere Botschaft bei Twitter.

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Zieht Sandoz angesichts explodierender Energiekosten „die Reißleine“?

Und in einem Bericht des Branchenportals „apotheke-adhoc“ vom 25. Oktober fand sich dazu ein Statement des Deutschlandchefs des betreffenden Generikaunternehmens Sandoz, Peter Stenico, über erwartete Kostensteigerungen: „Das Werk in Kundl verbraucht etwa so viel Strom wie die Stadt Innsbruck. Die Energiekosten lagen bisher bei etwa 10 bis 15 Millionen Euro im Jahr. Die Prognose für 2023: Kosten von 100 bis 120 Millionen Euro.“ Auch in diesem Text wurde befürchtet, der Hersteller würde nun „die Reißleine ziehen“.

In Kundl sitzt das letzte sogenannte „integrierte Werk“ für Penicilline in Europa – was bedeutet, dass hier die Bakterienbekämpfer vom Wirkstoff bis zum fertigen Arzneimittel produziert werden. Unter anderem stellt Sandoz dort Amoxicillin-Präparate her – ein Penicillin-Derivat, das unter anderem Kindern mit Lungen- oder Mittelohrentzündungen verschrieben wird. Und hier wurden zuletzt Lieferprobleme bekannt – eine weitere schlechte Nachricht in einem Jahr, in dem schon andere gravierende Medikamentenmängel offenbar wurden.

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Sandoz Germany räumt gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) „vorübergehende Lieferengpässe bezüglich ‚einiger Formulierungen’ (darunter versteht man die Überführung eines Wirkstoffes in eine Arzneiform) von Amoxicillin-Präparaten“ ein. „Gleiches gilt für einige unserer Penicillin-Präparate“, so Seraina Kupzog, Communications Manager bei Sandoz Germany. Ein Versorgungsnotstand stehe indes nicht bevor, „da dies nicht das gesamte Produktportfolio unserer Amoxicillin- und Penicillin-Präparate betrifft und andere Unternehmen nach unserer Kenntnis uneingeschränkt lieferfähig sind.“

Pro Generika bestätigt Lieferengpässe bei Antibiotika

„Die Versorgung mit Antibiotika ist tatsächlich immer mal wieder fragil“, sagt Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika, dem Interessenverband der deutschen Generika- und Biosimilarunternehmen, im Gespräch mit dem RND. Antibiotika kommen heute global durchweg von Generikaunternehmen, also Firmen, die Medikamente nach Ablauf des Patentschutzes der Entwicklerfirmen herstellen und zu einem deutlich billigeren Preis anbieten. Es gebe generell nicht mehr viele Hersteller, zudem eine hohe Abhängigkeit von Asien, was Rohstoffe betrifft und obendrein den Preisdruck der Krankenkassen, der immer wieder Hersteller zum Aufgeben bringt. Wer keine Ausschreibung einer Krankenkasse gewinnt, muss seine Produktion herunterfahren, weil er kaum einen Absatzmarkt findet.

Die Generikalieferanten hätten Bretthauer erst am Donnerstag (3. November) ihre Lieferengpässe bestätigt, gerade bei Amoxicillin. „Aber wir reden derzeit nicht von einem akuten Versorgungsnotstand“, sagt auch Bretthauer. „Alles kann im Moment noch irgendwie über andere Hersteller oder die Apotheken selbst geregelt werden.“

In der Apotheke fühlt sich der Engpass wie ein Notstand an

Für Gabriele Röscheisen-Pfeifer, Leiterin der Dobben-Apotheke in Oldenburg, fühlt sich der Engpass indes sehr wohl wie ein Notstand an. Es herrscht Ebbe – „sowohl bei reinen Amoxicillin-Produkten als auch bei denen mit Clavulansäure, die den Abbau von Amoxicilin im Körper hemmt, sowohl bei flüssigen als auch bei festen Präparaten“. Die Apothekerin erzählt vom schwierigen „Alltag an der Basis“, vom vorigen Wochenende, an dem sie Notdienst hatte, und sich statt mit den von der Krankenkasse vorgeschriebenen Rabattvertragspräparaten „mit verschiedensten Firmenprodukten bevorraten musste, um die Patienten mit Amoxicillin versorgen zu können“.

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„Man schaut dann, wer überhaupt noch liefert – und bei der Firma wird dann seitens der Apotheke bestellt.“ Weil diese Präparate dann wegen der fehlenden vertraglichen Firmenrabatte für die Krankenkassen teurer sind, ist immer eine exakte Dokumentation der eingesetzten Alternativen nötig – „ein Wahnsinnsaufwand, um immer gerüstet zu sein“. Einfach austauschen kann man verschiedene Arten Antibiotikatypen nicht, auch innerhalb der Gruppe der Penicilline bedarf es stets der Rücksprache mit dem Arzt. „Es ist eben ein Unterschied, ob man Bronchitis hat, eine Entzündung am Zahn oder eine Blasenentzündung“, sagt Röscheisen-Pfeifer. Außerdem können Allergien gegen ein Antibiotikum bestehen.

Amoxicillin ist nicht das einzige Problem-Antibiotikum derzeit

Amoxicillin ist nicht das einzige Problem-Antibiotikum zurzeit. Es fehlt Röscheisen-Pfeifer auch Sultamicillin in der Apotheke, ein Notfall-Antbiotikum, das zum Beispiel bei Tierbissen eingesetzt wird. Und Cefixim sei sogar über Jahre hinweg nicht lieferbar gewesen, ein Medikament, mit dem Infektionen zügig bekämpft werden können. In Grenzen behilft sich die Apothekerin selbst – so stellt sie in diesen Tagen aus Cotrim-forte-Tabletten einen antibiotischen Saft für Kinder her, bei dem derzeit ebenfalls ein Engpass zu vermelden steht. Mit Sorge blickt Röscheisen-Pfeifer in den Winter. „Wenn jetzt schon Engpässe auftauchen, wie wird das erst in der Erkältungssaison? Die fängt ja gerade erst an.“

Firmengelände von Novartis/Sandoz in Kundl: Hier wird die letzte „integrierte“ Amoxicillin-Produktion in Europa „gefahren“.- FOTO: APA/EXPA/ JOHANN GRODER - 20210526_PD4342

Firmengelände von Novartis/Sandoz in Kundl: Hier wird die letzte „integrierte“ Amoxicillin-Produktion in Europa „gefahren“.- FOTO: APA/EXPA/ JOHANN GRODER - 20210526_PD4342

Seraina Kupzog verweist als Gründe für den herrschenden Engpass bei den Sandoz-Erzeugnissen auf einen gestiegenen Bedarf im Pharmazeutikamarkt, auf Rohstoffknappheit und Schwierigkeiten bei Produktionskapazitäten. Durch die Pandemie sei es zu Nachfrageschwankungen gekommen.

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Ein Problem sind die drastisch steigenden Energiekosten

Pro-Generika-Geschäftsführer Bretthauer bestätigt das: „In den letzten zwei Jahren hatten wir aufgrund von Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und verschärften Hygienevorschriften viel weniger Erkältungskrankheiten. Der Bedarf an Antibiotika wurde geringer, für die Produktionsplanung der Unternehmen gab es keine verlässliche Grundlage mehr.“ Die Produktion musste heruntergefahren werden, um zu vermeiden, nicht benötigte Arzneimittel dann vernichten zu müssen. „Seit einiger Zeit aber steigern die Unternehmen die Produktion“, so Bretthauer, „und da stößt man zum Beispiel bei Flüssigantibiotika auf Lieferprobleme bei den Glasfläschchen, vor allem aber auf die drastisch steigenden Energiekosten. Eine solche Produktion lässt sich nicht einfach umlegen wie ein Lichtschalter.“

Die Gründe für Produktionsaufgabe oder für die Abwanderung von Generikaunternehmen ins Ausland sind vielfältig. Ein neues Antibiotikum steht 20 Jahre lang hochpreisig unter Patentschutz. Nach Ablauf des Patents beginnt das Generikarennen um die Nachfolge, der Preis sinkt deutlich, der Originator verliert daher meist das Interesse an der weiteren Herstellung des Produkts. Und der Wettbewerb unter den Generikaunternehmen und bei den Ausschreibungen der Krankenkassen ist so hart, dass oft von vornherein ein möglichst günstiger Produktionsstandort – meist in Asien – gewählt wird.

„Kein Unternehmen kann mit einem Arzneimittel dauerhaft rote Zahlen schreiben“

Bretthauer erinnert an weitere eklatante Versorgungsprobleme des Jahres 2022 – an das Brustkrebsheilmittel Tamoxifen oder die Fiebersäfte für Kinder: „In beiden Fällen waren die Unternehmen nicht mehr in der Lage, die Mittel zu den Preisen herzustellen, die die Kassen ihnen zahlen“, sagt Bretthauer. „Und da waren noch nicht einmal die massiven Energiekostensteigerungen der letzten Wochen und Monate enthalten.“ Preiserhöhungen seitens der Unternehmen würden nur zu erhöhten Rabatten für die Kassen führen – für die Unternehmen sei dies ein Nullsummenspiel. „Das eigentlich Bittere: Auch wenn es um die Versorgung der Bevölkerung geht, kann kein Unternehmen mit einem Arzneimittel auf Dauer rote Zahlen schreiben, sondern muss mittelfristig die Produktion einstellen.“

Der „Webfehler“ des Gesundheitssystems sei die strikte Fokussierung auf das billigste Generikum. „Wenn ein Unternehmen verantwortungsbewusst in eine zweite Produktionsstätte investiert, in klimafreundliche Produktion, in die Absicherung von Lieferketten durch vertragliche Bindung weiterer Rohstofflieferanten, dann wird es vom Gesundheitssystem bestraft – weil es dann nicht mehr der Billigste sein kann. Das ist absurd. Da müsste man zuallererst ansetzen. Sonst kommen noch enorme Probleme auf uns zu.“

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Am Tropf von China - Die Politik ist gefragt

Bei Antibiotika sei die Generikaindustrie zudem „am Tropf von China“, so Bretthauer. China habe vor ungefähr 20 Jahren verkündet, bei Antibiotika Weltmarktführer werden zu wollen. 65 Prozent der Wirkstoffe bei Amoxicillin stammten bereits aus China, so Bretthauer. Es bestehe da zwar im Moment kein Verfügbarkeitsproblem, was sich aber angesichts der geopolitischen Lage jederzeit ändern könne. Deutschland sei gewissermaßen vulnerabel. Die Politik sei gefragt.

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Marina Schmidt, Pressereferentin beim Bundesministerium für Gesundheit, verweist in der Antwort auf eine RND-Anfrage auf die „bevorstehende Überarbeitung des europäischen Arzneimittelrechts“. So soll ein EU-weiter Rechtsrahmen geschaffen werden, „der die Problematik vulnerabler Lieferketten und Lieferengpässe berücksichtigt und so die Versorgungssicherheit stärkt.“ Schon während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 seien Maßnahmen erörtert worden, darunter die Möglichkeit „finanzieller Anreize zum Erhalt und Ausbau der Wirkstoffproduktion in der EU“.

Auch der Koalitionsvertrag sieht vor, „die Herstellung von Arzneimitteln einschließlich der Wirk- und Hilfsstoffproduktion nach Deutschland oder in die EU zurück zu verlagern“. Maßnahmen zur Sicherstellung der Arzneimittelversorgung und Stärkung der Produktionsstandorte in Deutschland und der EU würden derzeit geprüft, Gespräche mit betroffenen Unternehmen und Verbänden geführt. Klingt zukunftsträchtig. Bundeskanzler Olaf Scholz schrieb erst am Donnerstag (7. November) in seinem Gastbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vor seinem Chinabesuch davon. Man werde „einseitige Abhängigkeiten abbauen, im Sinn einer klugen Diversifizierung“.

Bei den Generikaunternehmen glaubt niemand an eine Rückholung in wirklich großem Maßstab. „Man muss sehen, wo die Abhängigkeiten am größten sind“, sagt Bretthauer. „Antibiotika stehen da natürlich ganz oben auf der Liste. Es gibt keine Gruppe von Arzneimitteln, die so viel für die Steigerung der Lebenserwartung geleistet hat.“

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Eine Fünf-Tages-Therapie bei multiresistenten Keimen

„Wir brauchen Produktion in Europa“, sagt auch Röscheisen-Pfeifer. Manchmal muss ein Antibiotikum schnell da sein, dann sind Unabhängigkeit und nahe Wege wichtig. „Man muss die Firmen locken, dass die wieder Anreize sehen, in Deutschland oder Europa zu produzieren. Und wenn man billig in Indien produziert, muss man dort zumindest für Klimaneutralität sorgen und für Abwässerreinigung, wo sonst Antibiotikareste weitere multiresistente Keime erzeugen, die die dortige Bevölkerung belasteten und irgendwann auch bei uns landen. All das muss in die Verträge aufgenommen werden.“

Eine gute Nachricht zum Schluss. In Kundl steht kein „Game over“ zu befürchten – vorerst. Unternehmenssprecherin Kupzog fasste sich in Ihrem Schreiben ans RND kurz: „Sandoz plant derzeit, auch im kommenden Jahr weiterhin Antibiotika zu produzieren.“

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