Viele kleine Raumwunder
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Das neue Tanzstück von Olaf Schmidt mit dem Titel "Room" erlebte am Sonnabend seine Uraufführung am Theater Lüneburg. Hier eine Szene mit Júlia Cortés und Phong Le Thanh. Foto: Theater
Lüneburg. Wir wissen so viel über den Raum und wissen doch fast nichts. Unheimlich ist der unendliche Raum, der uns im All umgibt. Quälend eng ist ein Raum, wenn er uns einschließt. Ungreifbar ist der Raum für das Denken und das Fühlen. Behaglich ist er, wenn er uns als Zimmer wärmt. In jedem Leben, um es weiterzudrehen, steckt ein Raum voller Möglichkeiten oder auch Unmöglichkeiten. Räume der Kindheit sind in unserer Erinnerung weit größer als in der Realität. Raum also ist immer und überall, und nun hat er eine weite Bühnenfläche, einen Tisch, zwei Sessel und zwei Türen. Mehr braucht es nicht für Olaf Schmidts neues Ballett „Room“, das eine Fülle farbiger Raumwunder erleben lässt.
Zuerst betritt eine Frau (Claudia Rietschel) den von Barbara Bloch entworfenen Bühnenraum. Die Frau schleppt zu viele Koffer mit sich, schaut sich um, aber sie fühlt sich nicht wohl, geht und macht Raum für die nächste kurze Geschichte, in der ein junger Mann (Samuël Dorn) vom weiten Meer träumt. Bald sitzt in den Sesseln ein Paar (Sarah Altherr, Hugo Prunet), sie will hinaus und er will bleiben, dann kommt ein Mann (Phong Le Thanh) auf die Bühne, raucht und hüllt sich ein in seinen Qualm.
Erzählstränge wie farbige Bänder
Bald ist die Frau mit den Koffern wieder da, auch das Paar, und es gibt eine Geschichte von einer Frau (Irene La Monaca), die gefangen ist, aber mit ihrem Bewacher (Wallace Jones) in Kontakt kommt. Auch der Raucher wird aus seinem Qualm heraustanzen und auf eine Frau (Júlia Cortés) stoßen.
Es sind Geschichten für locker drei Stunden, die als Miniaturen in nur 65 Minuten vorüberstreichen. Ihre Fülle kurzer Szenen lassen Olaf Schmidt und Co-Regisseur Boris von Poser ineinandergleiten. Zugleich verflechten sie Erzählstränge wie farbige Bänder. So steht jede Szene für sich, und doch wächst ein Ganzes als Raum für Assoziationen, Gedanken, Empfindungen. Zu den spannendsten Sequenzen zählen die, in denen eine Vormieterin (Rhea Gubler) den Geist des Nachmieters erobert und ihn in sich zu verwandeln beginnt. Die Szenen greifen Roman Polanskis düsteren Film „Der Mieter“ auf.
Musik kommt vom Band
Olaf Schmidt hat in dieser noch jungen Spielzeit seine Truppe in beträchtlichem Teil runderneuern müssen. Viel Arbeit, denn die kleine Lüneburger Compagnie kann nur durch ein extrem hohes Maß an Teamfähigkeit funktionieren. Sonst wäre der konstant hohe Level an Können und Kreativität nicht zu halten. Olaf Schmidt versteht es zum Glück, zu integrieren, fordernd zu motivieren und dabei die Individualität der Tänzerinnen und Tänzer zu stärken.
Eine zweite Schwierigkeit muss das Team meistern: Abstand wahren ist beim Tanztheater eigentlich undenkbar. Aber an diesem „Raum“-Abend fließen die Szenen in ihrer Vielfalt der Bewegung so geschmeidig ineinander, dass die Pandemie-Einschränkungen kaum auffallen. Die Musik kommt vom Band, etwa von Tom Waits und immer wieder von Max Richter, der Tradition und Gegenwart aufregend zu vereinen weiß. Zu Bewegung, Musik und Kostüm (Gesa Koepe) kommt ein ausgeklügeltes, Atmosphäre leitendes Licht, gefahren von Dirk Glowalla.
Zu erleben sind Szenen und Menschen aus dem Hier und Heute, gekleidet in Business-Anzug oder Plisseerock, Reisekleid oder Streifenpulli. Rastlose Menschen, Suchende, Sehnsuchtsvolle, solche, die an sich irre werden, und andere, die um Freiheit im direkten und übertragenen Sinn ringen. Paare, Passanten und Einzelgänger. Lauter Menschen wie du und ich.
Zum Ende schmettert Freddy Mercury: „Show Must Go On“. Genau! Wieder am 17. Oktober um 18 und 20 Uhr, es ist noch Platz im Raum.
LZ