Deutlich mehr Fehltage wegen psychischer Erkrankungen
Dr. Marc Burlon ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und
Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Klinik Lüneburg. (Foto: t&w)
Im vergangenen Jahr gab es viele Fehltage wegen Depressionen und anderer psychischer Erkrankungen. Das geht aus dem aktuellen Psychreport der DAK-Gesundheit hervor, die auf Basis einer Datenauswertung von mehr als 2,4 Millionen erwerbstätigen Versicherten der Krankenkasse beruht. Ein Grund seien häufig die besonderen Arbeitsbedingungen unter Corona. Die LZ sprach über das Thema mit Dr. Marc Burlon, Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Klinik Lüneburg.
Herr Dr. Burlon, in dem Report heißt es, dass sich die Ausfalltage gegenüber von vor zehn Jahren fast verdoppelt hätten. Corona kann dafür aber nur in den vergangenen zwei Jahren der Grund sein. Wie ist Ihre Einschätzung?
Dr. Marc Burlon: Die Frage, ob unsere Gesellschaft psychisch immer kränker wird, beschäftigt uns schon länger. Nach meiner Einschätzung werden wir psychisch nicht kränker, aber aufgeschlossener und aufmerksamer für psychische und seelische Fragestellungen. Wir trauen uns, über Sorgen und Nöte zu sprechen, wir hören einander besser zu und wissen eher, wohin wir jemanden schicken können. Sicherlich wird das Reden über sexuelle Probleme oder Alkoholsucht immer schwierig sein, aber dass das Reden über Schlaf- und Partnerschaftsprobleme in dem Rat endet, sich an einen Therapeuten zu wenden, ist heutzutage viel häufiger.
Ein weiterer Grund für den Anstieg kann sein, dass uns der Zusammenhang zwischen körperlichen und psychischen Erkrankungen immer klarer wird. Wir verstehen heute viel besser, dass die Psyche in ständiger Wechselwirkung mit dem Körper steht und dass beide sich gegenseitig positiv – aber auch negativ – beeinflussen können. Das heißt, dass der Hausarzt bei andauernden Magenproblemen sicherlich auch die Frage nach dem Zustand der Psyche erkunden wird – wenn die somatischen Ergebnisse unauffällig sind.
Welche psychischen Erkrankungen haben besonders zugenommen?
Wir sehen über die vergangenen Jahre keinen generellen Zuwachs einzelner Diagnosen. Was wir jedoch sehen, und was auch der DAK-Report dokumentiert, ist die Zunahme an Anpassungsstörungen. Dabei handelt es sich um den gescheiterten oder erschwerten Anpassungsprozess an ein einmaliges oder fortbestehendes Lebensereignis: in unserem Fall die Corona-Pandemie.
Die Symptome einer Anpassungsstörung können von Ängsten, Depressionen, Schlafproblemen und sozialem Rückzug bis zu Appetitmangel oder auch lebensmüden Gedanken gehen. Halten die Symptome an und verstärken sich, ist der Weg in eine ausgeprägte Depression nicht weit. Wir alle kennen solche Anpassungsleistungen nach Tod eines Angehörigen, Jobverlust, Umzug in eine fremde Stadt – jedoch haben wir die schwierigen Zeiten überwunden. Corona und die Auswirkungen auf unseren Alltag sind leider kein einmaliges Ereignis, sondern halten weiter an – und verändern sich derart, dass der Eindruck entsteht, es höre nie auf.
Gehen Betroffene heute damit auch bewusster um, wenn die Psyche erkrankt?
Betroffene und ihre sozialen Netzwerke gehen deutlich bewusster damit um. Nicht nur in Film und Fernsehen rücken psychische Erkrankungen in den Fokus – von der Darstellung des durchgeknallten Künstlergenies hin zum traumatisierten Soldaten, der Probleme hat, im Supermarkt zwei Tüten frische Milch zu kaufen. Auch auf Partys kann man von seiner Behandlung in einer Tagesklinik wegen einer Depression berichten, ohne danach alleine an der Bar zu stehen.
Das Gesundheitssystem spielt hier sicherlich eine große Rolle, da wir besser in Diagnostik und Therapie geschult sind. Hier spielen die Hausärzte eine herausragende Rolle – das wird ja durch den DAK-Report deutlich.
Bei welchen Anzeichen sollte man versuchen, sich professionelle Hilfe zu holen?
Sicherlich ist der Gedanke, ob man sich professionelle Hilfe holen sollte oder nicht, schon ein guter Wegweiser, es zu tun. Profis können dann die Symptomatik einordnen, darüber aufklären und ein Verständnis entwickeln – was oft zu einer Entlastung führt. Der innere Leidensdruck ist also ein wichtiger Gradmesser.
Manchmal sehen das die Angehörigen eher als Betroffene – hier kann die Mitteilung von Sorgen motivierend wirken. Symptome wie Schlaflosigkeit, Appetitverlust, lebensmüde Gedanken, depressive Gefühle oder erhöhter Alkoholkonsum sind immer ein Alarmsignal – vor allem, wenn sie neu sind, wenn sie anhalten oder wenn sie die Frage aufwerfen: Sollte ich mir Hilfe holen? Ja!
Ein Fazit des Reports ist, dass Arbeitgeber Stress und mögliche Belastungen mehr in den Fokus nehmen und Arbeitsabläufe so gestalten müssen, dass sie die psychische Gesundheit der Mitarbeiter stützen. Sehen Sie da auch Handlungsbedarf?
Hier sehe ich großen Handlungsbedarf, jedoch ist das Thema nicht neu. Schon lange ist zum Beispiel bekannt, dass in monotoner Arbeit gesundheitliche Risiken stecken und dass soziale Kontakte während der Arbeit der Psyche und der Gesundheit guttun. Ich sehe die Verantwortung jedoch nicht alleine bei den Arbeitgebern – wir haben es auch mit einem gesellschaftlichen Problem zu tun.
Wenn wir einmal im Jahr nach Spanien oder Italien fahren, um dort die Lebensart, die freundlichen Menschen und das frische Essen zu genießen, muss man sich fragen, warum wir uns die restlichen 345 Tage im Jahr hier nicht freundlich auf der Straße grüßen, warum wir Fertiggerichte oder billigen Kram essen und auf Menschen herabblicken oder bewundern, die anders mit Arbeit umgehen als wir.
Gibt es psychische Erkrankungen, die wirklich im direkten Zusammenhang mit der Pandemie zu sehen sind?
Anpassungsstörungen gehören sicherlich dazu. Für diese ist aber charakteristisch, dass offen bleibt, was sich daraus entwickeln kann. Wir werden also erst mit der Zeit sehen, welche Langzeitfolgen die Pandemie auf die Psyche hat. Long Covid beschäftigt nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche. Eine einheitliche Definition für Long Covid gibt es bisher noch nicht, das wird die Wissenschaft in den nächsten Jahren liefern.
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