Die Lüneburger Ärztin Anja Schreiber spricht im LZ-Interview über die möglichen Langzeitfolgen einer Corona-Infektion für die Jüngsten. Sie weist vor allem auf einen sprunghaften Anstieg von Typ-1-Diabetes-Fällen hin.
Lüneburg. Vor allem Kinder führen seit Monaten die Corona-Infektionsstatistik im Landkreis Lüneburg an: In keiner Altersgruppe lag die Zahl der Sieben-Tages-Inzidenz, Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner, höher als bei der Altersgruppe der Fünf- bis 14-Jährigen. Seit Beginn der Osterferien sinken die Zahlen. Im LZ-Interview spricht die private Kinderärztin Anja Schreiber aus Lüneburg über die Sinnhaftigkeit von Corona-Schutzimpfungen für Kinder, das Risiko von Folgeerkrankungen nach einer Corona-Infektion und welche Option Eltern von Kindern haben, für die es noch keinen zugelassenen Impfstoff gibt.
Die Inzidenzwerte in der Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen im Landkreis Lüneburg rangierte in den vergangenen Monaten teilweise deutlich jenseits der 2000er Marke. Die Durchseuchung bei den Jüngsten mit dem Corona-Virus in Kitas und Grundschulen schreitet demnach mit Macht weiter voran. Lohnt es sich da eigentlich noch, Kinder zu impfen?
Anja Schreiber: Ich denke schon. Es ist ja so, dass längst nicht alle Kinder sich infiziert haben. Und auch diese Kinder haben weiterhin, auch nach den Osterferien, ein hohes Risiko, sich in Kitas und Schulen noch zu infizieren. Zumal die Maskenpflicht in den Schulen aufgehoben wurde, was das Infektionsrisiko noch einmal erhöhen dürfte. Und im Sommer und Herbst sind die nächsten Wellen zu erwarten, das ist ja noch lange nicht vorbei.
Lange hatte es in der öffentlichen Debatte geheißen, dass wir die Kinder am besten mit einer hohen Impfquote unter den Erwachsenen in ihrem Umfeld schützen. Die allgemeine Impfpflicht ist jetzt jedoch im Bundestag gescheitert. Was folgt für Sie als Kinderärztin daraus?
Das bedeutet wohl für die Kinder und ihre Familien wieder, dass bei höheren Inzidenzen spätestens im Herbst Corona auch wieder in Schulen und Kindergärten durchrauschen wird so wie zuletzt. Dabei hat sich übrigens gezeigt, dass 90 bis 100 Prozent aller PCR-Tests, die wir in den vergangenen Wochen bei Kindern durchgeführt haben, die zuvor positiven Antigenschnelltests bestätigt haben. Das deutet auf eine hohe Dunkelziffer hin.
Und für den weiteren Verlauf ist es ja bei Omikron leider nicht so, dass man nach einer Infektion eine gute Immunität gegen Corona aufbaut oder eine Zweitinfektion weniger schwer verläuft. Da können genauso sehr hohes Fieber und Gliederschmerzen dabei sein. Insofern lohnt es sich jetzt, doch verstärkt über Impfungen für Kinder nachzudenken.
Laut Robert-Koch-Institut liegt die Impfquote in Niedersachsen bei den Zwölf- bis 17-Jährigen derzeit bei 70,8 Prozent, die mindestens eine Impfung erhalten haben, in der Altersgruppe von fünf bis elf Jahren aber bei nur 26,6 Prozent. Ist es nicht schon zu spät, bei den Kleinen zu handeln?
Nein. Auch bei den Kindern nimmt man die beiden ersten Impfungen im Abstand von mindestens drei Wochen vor, sodass die Zeit noch reichen würde, einen Impfschutz aufzubauen. Im Herbst könnte im Abstand von drei bis sechs Monaten die Auffrischungsimpfung erfolgen. Aber es stimmt, die Zeit drängt: Ich sehe jetzt schon vereinzelt die ersten Kinder in meiner Praxis, die sogar schon zwei Infektionen durchgemacht haben. Auch da wäre eine Impfung noch sinnvoll, um die Kinder vor möglichen Langzeitfolgen zu schützen.
Allgemein wird doch aber gesagt, dass Kinder eher leichte Verläufe haben ...
Zum Glück! Aber eine Impfung ist auch sinnvoll, um Long-Covid beziehungsweise Post-Covid vorzubeugen. Das wird nur leider zu sehr mit den Verläufen bei Erwachsenen verglichen, die deutlich häufiger schwerwiegend sind. Man sollte es eher mit anderen Krankheiten bei Kindern vergleichen. Und da ist es so, dass Covid-19 bei Kindern zu 99 Prozent wahrscheinlich sehr mild verläuft, aber ein Prozent schwerwiegende Folgen erleben muss.
Sehr selten kann auch PIMS auftreten, das ist ein Entzündungssyndrom, das ungefähr drei bis sechs Wochen nach der akuten Erkrankung auftritt und bei vielen Kindern dann einen stationären Krankenhausaufenthalt notwendig macht, wenige müssen sogar auf die Intensivstation und können Folgeschäden davontragen, beispielsweise an den Herzkranzgefäßen. Das wäre eine mögliche Folgeerkrankung. Aber auch andere Organe können geschädigt werden.
Zum Beispiel?
Ganz aktuell habe ich Rücksprache gehalten mit der Diabetesambulanz des Kinderkrankenhauses Wilhelmstift in Hamburg sowie der Medizinischen Hochschule Hannover. Und die haben im zeitlichen Zusammenhang mit Corona-Infektionen bei Kindern 2020 und 2021 einen sprunghaften Anstieg der Typ-1-Diabetes-Fälle festgestellt. Das ist eine Autoimmunerkrankung, die auf Virusinfekte zurückzuführen ist. In diesem Fall korreliert das mit Covid-19-Infektionen bei Kindern. Ich selber habe eine Tochter mit Typ-1-Diabetes. Sie hat das früher im Alter von drei Jahren bekommen im Anschluss an eine andere Virusinfektion. Und das geht nicht wieder weg, Typ-1-Diabetes ist eine Beeinträchtigung fürs ganze Leben. Der nun signifikante Anstieg von Typ-1-Diabetes nach den Coronawellen bereitet Sorge.
Covid ist ja keine reine Lungenerkrankung, wie man anfangs dachte, sondern eine Entzündung der ganz kleinen Gefäße, und das kann Schäden im ganzen Körper anrichten. Bei Kindern ist auch schon beobachtet worden, dass es in die Leber geht und Gelbsucht auslöst oder ins Gehirn geht ... Die Forschung dazu ist aber noch relativ am Anfang und noch nicht so weit wie bei den Erwachsenen. Dazu muss man in den nächsten Jahren noch Daten sammeln und die Entwicklung beobachten.
In der Öffentlichkeit wurde bisher eher weniger über Long- und Post-Covid bei Kindern diskutiert. Welche Erklärung haben Sie dafür?
Grundsätzlich reden wir auch bei Kindern über mögliche Schädigungen, die erst Monate nach der akuten Infektion zutage treten können. Und die wirklich sehr hohen Covid-Infektionen bei Kindern haben wir erst seit vergangenem Herbst. Die Berichte über die Folgen kommen jetzt erst so nach und nach. Da müssen wir gerade alle noch viel lernen. Bei den infizierten Erwachsenen ist von einer Quote von zehn bis 15 Prozent die Rede, die Langzeitschäden davontragen können. Bei Kindern hingegen hört sich ein Prozent dann nicht so viel an. Aber wenn wir jetzt eine ganze Generation durchseuchen mit ein, zwei oder sogar drei Infektionen mit dem Corona-Virus, dann kann das in absoluten Zahlen schon sehr viele Kinder betreffen. Insofern ist es zu kurz gedacht, wenn behauptet wird, dass eine Corona-Infektion für Kinder nur harmlos ist.
Von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA gibt es bislang nur zugelassene Impfstoffe ab einem Alter von fünf Jahren und auch dafür nur eine eingeschränkte Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) in Deutschland. Wie sollen sich Eltern verhalten, die Kinder im Alter von unter fünf Jahren haben? Wäre eine sogenannte Off-Label-Impfung, also außerhalb der Zulassung, eine Option?
Ich denke schon. Aber ich weiß: Für Eltern ist das eine sehr schwierige Abwägung, die sie zusammen mit ihrem Kinderarzt treffen müssen. Bei dem doch sehr schnell entwickelten Impfstoff gegen Corona wurde zunächst darauf geschaut, wie die Verträglichkeit und Wirksamkeit für Erwachsene ist. Und bei Erwachsenen ist trotz der sehr seltenen Nebenwirkungen eine Impfung immer günstiger als eine Infektion mit Corona. Aktuell laufen auch in den USA Impfstoff-Studien für die Altersgruppen sechs Monate bis zwei Jahre und zwei bis fünf Jahre. Und eigentlich hatten wir gehofft, dass der Impfstoff für die ganz kleinen Kinder im Alter von unter fünf Jahren schon Anfang 2022 da gewesen wäre. Aber das scheint angesichts der Anpassung der Impfstoffe an neue Corona-Varianten etwas in den Hintergrund getreten zu sein.
Impfen Sie auch Off-Label?
Ich selber habe mit Off-Label-Impfungen Kontakt bekommen, als verzweifelte Eltern von schwer vorerkrankten Kindern auf mich zugekommen sind und mich gebeten haben, sie zu impfen. Dabei fiel die Wahl auf den Impfstoff von Biontech in einer verringerten Dosis. Wenn man nicht in der Situation ist, ist es leicht zu sagen: „Dann zieht euch doch lieber zurück“. Doch diese sogenannten Schattenfamilien können schon seit vielen Monaten nur noch sehr eingeschränkt am Leben teilnehmen. Und mit der Aufhebung der Maskenpflicht auch in den Schulen ist die Lage für diese Familien viel schwieriger geworden. Und dann empfinden es vor allem diese Eltern, oder Eltern, die selbst vorerkrankt sind, als Segen, wenn man mit der Impfung ihre Kinder, aber auch die Familie, schützen kann. Ich habe da mittlerweile viel Erfahrung gesammelt und bin bundesweit im Austausch mit vielen Kollegen, die sich auch für Off-Label-Impfungen aussprechen. Das ist übrigens ganz legal und auch bei anderen Medikamenten für Kinder geübte Praxis. Und es sind in Deutschland schon mehrere zehntausend Kinder im Alter unter fünf Jahren gegen Corona geimpft worden, bei sehr guter Verträglichkeit. Die Daten werden jetzt zusammengetragen, um sie später zu veröffentlichen.
Und wie ist die Wirksamkeit bei Kindern?
Meine Beobachtung ist, dass sich geimpfte Kinder seltener mit Covid infizieren. Es ist bei Omikron natürlich nicht ausgeschlossen, genauso wenig wie bei Erwachsenen. Bislang hat keines dieser Kinder anhaltende Symptome entwickelt. Daher rate ich weiterhin dazu, nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kinder mit einer Impfung zu schützen.