Kommunalparlamente: Mittelalter, männlich und Mittelklasse
Bis 2018 lehrte Prof. Dr. Marion Reiser an der Leuphana Universität in Lüneburg. Aktuell ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Politische Systeme in der Bundesrepublik Deutschland an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. (Foto: t&w)
Jüngere Menschen sind in Stadträten und Kreistagen unterrepräsentiert. Dafür gibt es auch Gründe, meint die Politologin Marion Reiser. Das bedeute aber nicht, dass die Altersstruktur einen entscheidenden Einfluss auf das Abstimmungsverhalten hat.
Lüneburg. 102 Mitglieder haben Lüneburgs Kreistag und Stadtrat zusammen. Nur ganze 17 von ihnen sind zwischen 35 und 50 Jahre alt (LZ berichtete am Sonnabend), während immerhin 25 noch jünger als 35 sind. Warum das so ist, erklärt die Politik-Professorin Marion Reiser im Gespräch mit LZ-Chefredakteur Marc Rath.
Ist diese Unterrepräsentanz typisch für die kommunalen Vertretungen in Deutschland?
Marion Reiser: Ja, eine Unterrepräsentation jüngerer Altersgruppen ist typisch für Kommunalparlamente in Deutschland. Durchschnittlich sind die Mandatsträger zwischen 51 und 55 Jahre alt, wobei insbesondere die Alterskohorte der 45- bis 65-jährigen deutlich überrepräsentiert ist. Jene Gruppe stellt in der Regel fast zwei Drittel der kommunalen Amts- und Mandatsträger. Diese Altersstruktur variiert übrigens kaum hinsichtlich der ausgeübten Funktionen (etwa Fraktionsvorsitzender oder einfacher Mandatsträger), Gemeindegröße oder Bundesland.
Die Belastungen in dieser Altersstufe sind hoch – berufliche Karriere, Gründung einer Familie und vermehrt Pflege von Angehörigen beanspruchen viel Zeit. Ist es überhaupt realistisch, dass sich zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter aus ihrer Mitte in der Kommunalpolitik engagieren?
In der Tat wird die Altersstruktur in den Kommunalparlamenten vor allem darauf zurückgeführt, dass die älteren Jahrgänge im Vergleich zu jüngeren Jahrgängen bessere Rahmenbedingungen für die Ausübung eines kommunalpolitischen Mandats haben, da sie privat und beruflich bereits etabliert sind. Für die jüngeren Alterskohorten ist die Vereinbarkeit mit Familie und Beruf in der Tat sehr schwierig und in den meisten Fällen ein ständiger Balanceakt. Diese Problematik der Vereinbarkeit verschärft sich zudem deutlich in größeren Kommunen und Städten, da hier für die Ausübung des Stadtratsmandats zumeist ein hoher Zeitaufwand notwendig ist.
Können Sie noch weitere Unterschiede feststellen – etwa bei den Berufen?
Auch hinsichtlich der Berufsstruktur weichen Ratsmitglieder deutlich von der Bevölkerung ab. So wird seit Jahrzehnten – vergleichbar mit der Situation in den Landtagen und im Bundestag – eine Dominanz von Beamten und Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, Selbstständigen, Freiberuflern und Rentnern festgestellt, während Angestellte, Arbeiter, aber auch Auszubildende und Studierende deutlich weniger vertreten sind. Diese Asymmetrie erklärt sich durch die höhere Abkömmlichkeit und Flexibilität bestimmter Berufsgruppen. Insgesamt kann man für das Sozialprofil ein „3M-Mantra (male, middle-aged and middle-class)“ feststellen: Der übergroße Anteil der Amts- und Mandatsträger ist männlich, mittleren Alters und seine Erwerbstätigkeit lässt auf eine Zugehörigkeit zur Mittelklasse mit einer hohen zeitlichen Flexibilität schließen.
Wie sehen Sie die Qualität von Entscheidungen, etwa auch für Themen wie Kita-Plätze oder Schulentwicklung, von denen diese Altersgruppe besonders betroffen ist, wenn die 35- bis 50-Jährigen hier in der Politik nur wenig mitreden?
Die Unterrepräsentation bestimmter Alters- und Berufsgruppen in den Parlamenten – von der lokalen bis zur europäischen Ebene – wird ja insgesamt in den Medien und der Öffentlichkeit zunehmend kritisiert. In dieser Kritik spiegelt sich die Idealvorstellung einer spiegelbildlichen Repräsentation der Bevölkerung im Parlament wider, dass also alle wesentlichen Personengruppen dort angemessen vertreten sein sollten. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studien sind jedoch uneinheitlich, ob dies für die Repräsentation von bestimmten Interessen und das Handeln der Abgeordneten wichtig ist.
Einerseits sehen wir in Studien keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Sozialprofil und dem Abstimmungsverhalten der Stadträte – hier ist die Fraktionszugehörigkeit zumeist für das Abstimmungsverhalten ausschlaggebend. Andererseits sprechen ähnliche Lebenserfahrungen und Kenntnisse der spezifischen Probleme dafür, dass eine Vertretung junger Menschen im Rat wichtig ist. So kennen junge Stadträte die Lebenswirklichkeit junger Menschen aus ihrem eigenen Erleben und somit besser als ältere Vertreter. Zudem fühlen sich Bürger besser von Stadträten vertreten, die ein ähnliches Sozialprofil haben.
Online- oder Hybrid-Sitzungen, andere Anfangszeiten oder Angebote für Kinderbetreuung sind einzelne Ansätze, um für die Altersgruppen kommunalpolitisches Engagement attraktiver beziehungsweise überhaupt erst möglich zu machen. Was halten Sie für sinnvoll?
Ich halte existierende Angebote wie Kinderbetreuung, gesetzliche Freistellungsmöglichkeiten, eine bessere zeitliche Organisation der Ratsarbeit, eine gute IT-Ausstattung und eine personelle Ausstattung der Fraktionen für sehr gute und wichtige Ansätze, um ehrenamtliches Engagement möglich zu machen. Neben diesen wichtigen strukturellen Rahmenbedingungen wird m.E. jedoch ein ganz wichtiger Punkt häufig übersehen: die Bedeutung von Verständnis und Wertschätzung des kommunalpolitischen Engagements am Arbeitsplatz (vom Arbeitgeber und den Kollegen), im privaten Umfeld und insbesondere in der Öffentlichkeit. Wenn wir zunehmend von Anfeindungen und Angriffen auf Kommunalpolitiker hören, dürfen wir uns nicht wundern, wenn junge Menschen nicht mehr bereit sind, sich in ihrer Freizeit für ihre Kommune einzusetzen.
Für eine Belebung der kommunalpolitischen Diskussionen gibt es auch alternative Vorschläge - etwa die Schaffung von niederschwelligeren Zugängen, zum Beispiel an Orten der Begegnung, neuen Mitwirkungsmöglichkeiten und eine andere Diskussionskultur. Wie sehen Sie solche Ansätze?
Innovative Beteiligungsformate – wie Bürgerräte, Bürgerhaushalte, andere dialogorientierte und direktdemokratische Verfahren – sind grundsätzlich sehr gute Ideen für mehr bürgerschaftliches Engagement. Allerdings zeigen Studien, dass sich bei diesen Formaten häufig ebenfalls vor allem ressourcenstarke Personengruppen engagieren und somit zum Teil die soziale Schieflage sogar verschärft wird. Zudem können solche Beteiligungsverfahren die wichtige Arbeit der Kommunalparlamente nicht ersetzen, sondern stellen eine wichtige Ergänzung dar.
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