Zum Wahlkampf in der Grünen-Hochburg Lüneburg, in der Partei gerne „Grüneburg“ genannt, traten Spitzenkandidaten Julia Willie Hamburg und Christian Meyer an. Über mögliche Ansprüche auf Ministerien wollten sie nicht spekulieren. Wichtiger war ihnen, für den Turbo in Sachen Energiewende zu werben.
Als Joschka Fischer Außenminister war, mussten die Grünen gegen ihre pazifistische Tradition handeln. Wirtschaftsminister Habeck muss nun zu Kohle und Gas greifen, um die Krise zu bewältigen, Atom in der Hinterhand halten. Wollen Sie da wirklich wieder zurück in Regierungsverantwortung?
Christian Meyer: Auf jeden Fall. Wir wollen ins Gestalten kommen. Klimagerechtigkeit voranzutreiben, geht nicht auf der Oppositionsbank. Klar ist, dass es Widerstände geben wird, wenn wir den Status Quo verändern. So war es in der Atomindustrie oder auch im Bauernverband. Aber am Ende kommt man meist zu einer Politik, die mehr Wirtschaftskraft, mehr Klimaschutz und mehr Zufriedenheit für alle bringt.
Julia Willie Hamburg: Wir haben in den vergangenen fünf Jahren in Niedersachsen schon gemerkt, dass es einen Unterschied macht, ob Grüne mitregieren oder nicht. Etwa bei der Formulierung des Klimaschutzgesetzes oder auch bei der Aufnahme der Geflüchteten. Von der jetzigen Landesregierung wurde sehr viel zurückgedreht. Das zeigt: Es lohnt sich, im Zweifel Kompromisse einzugehen, um Niedersachsen auf lange Sicht zukunftsfähig aufzustellen.
Derzeit sind nur 1,1 Prozent der Fläche Niedersachsens als Windkraftareal ausgewiesen. Sie wollen den Turbo einlegen, um schnell auf 2,5 Prozent zu kommen. Wie soll das gelingen angesichts des zu erwartenden Widerstands?
Meyer: Wir wollen vor allem einheitliche Kriterien haben. Noch ist es so, dass jede Gemeinde, jeder Landkreis die Güter Abstände, Denkmäler und Naturschutz unterschiedlich abwägt. Wir wollen uns auf Landesebene zusammen mit den Umweltverbänden und den Kommunen auf eine Linie einigen. Natürlich wäre es für das Land einfacher, den Kommunen die Verantwortung zuzuschanzen. Aber wir haben nicht mehr die Zeit. Zudem gilt es, die Stimmung in der Bevölkerung umzusetzen. 90 Prozent der Bürger und Bürgerinnen wollen einen schnellen Ausbau der Windenergie. Nach fünf Jahren werden wir gefragt werden, ob wir das Ziel von 2,5 Prozent der Flächen für Windenergie umgesetzt haben. Dafür werden wir alles geben – im Dialog mit den Beteiligten.
Das 9-Euro-Ticket hat gerade hier in der Region schonungslos die Mängel in der Bahninfrastruktur bloßgelegt. Wie wollen Sie die Verkehrswende aufs richtige Gleis setzen?
Hamburg: Bezahlbare Tickets sind nicht alles. Man braucht auch Busse und Bahnen, die fahren. In vielen ländlichen Regionen fahren nur morgens und nachmittags Schulbusse, mehr nicht. Wir wollen in Modellprojekten klären, wie eine Mobilitätsgarantie von fünf Uhr bis 24 Uhr gelingen kann. Hier bieten über App buchbare Kleinbusse und autonomes Fahren Chancen für den ländlichen Raum. Zudem braucht es das Reaktivieren von Bahnstrecken, um im ländlichen Raum eine angemessene Taktung zu erreichen.
Wollen Sie Winfried Kretschmanns Waschlappen-statt-Duschen-Vorschlag noch toppen oder sehen Sie andere, beim Land angesiedelte Stellschrauben, um Energie einzusparen?
Meyer: Es geht nicht um das individuelle Verhalten. Vielmehr müssen wir den Menschen helfen, dass ihre Gebäude ökologisch saniert werden. Es gibt viele Gebäude aus den 50er-/60er-Jahren mit sehr hohen Heizkosten. Da würde es konkret helfen, wenn das Land den Austausch der Fenster und Heizungen fördert. Dafür haben wir eine Milliarde Euro im Wohnraum-Förderfonds. Wir wollen schnell ein Programm für eine soziale Wärmewende auflegen, um privaten Hausbesitzern, aber auch Mieterinnen und Mietern Anreize zu bieten, um Energie zu sparen oder auf erneuerbare Energien umzusteigen.
Ihr Parteifreundin Claudia Kalisch ächzt gerade unter einer Flüchtlingszuweisung, die nur die Einwohnerzahl der Kommune berücksichtigt, nicht aber den freien Wohnraum. Könnten grüne Minister dafür sorgen, dass mehr Vertriebene im Harz-Vorland untergebracht werden als in der Metropolregion Hamburg?
Hamburg: Hauptstellschraube ist, dass das Land wieder vernünftig Geld an die Kommunen zahlt, damit diese Flüchtlinge aufnehmen. Derzeit werden die Kommunen mit den Kosten zur Bewältigung der Corona-Pandemie, den steigenden Energiepreisen und den Aufwendungen für die Geflüchteten allein gelassen. Hier muss das Land endlich Geld in die Hand nehmen, um die Kommunen abzusichern.
Ist die finanzielle Lastenverteilung bei der Unterbringung Geflüchteter zwischen Land und Kommunen gerecht?
Hamburg: Nein, ist sie nicht. Derzeit lässt das Land die Kommunen weitestgehend allein. Das war bei anderen Krisen schon besser geregelt. Wir müssen wieder dahinkommen, dass das Land mehr Verantwortung übernimmt und nicht nur auf den Bund zeigt.
Meyer: Die Kommunen sind in Vorleistung getreten, haben zusätzlichen Wohnraum geschaffen. Dafür müssen sie nun entlastet werden. Das Land kann sich da nicht aus der Verantwortung stehlen, Mehrkosten zu übernehmen oder zu bezuschussen.
Was ist so schwer daran, die Ausbildungsabschlüsse ukrainischer Lehrerinnen anzuerkennen, damit sie hier Lücken an den Schulen schließen können?
Hamburg: Derzeit haben wir bei der Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen noch unfassbar viele Hürden. So studieren in einigen Ländern angehende Lehrer nur eines statt zweier Fächer wie in Deutschland. Aus unserer Sicht ist es überholt, dass diese Menschen noch ein komplettes Fach studieren müssen oder erheblich weniger verdienen. Die müssen wir jetzt in den Lehrerberuf holen. Ich kenne einen Syrer, der Englisch und Deutsch auf Lehramt studiert hat und nun Taxi fahren muss.
Meyer: Ähnlich ist die Lage im Pflegebereich, wo Abschlüsse von Kosovaren, Syrern und Ukrainern nicht anerkannt werden. Ein Physiotherapeut zeigte mir, dass die Anerkennung desselben Abschlusses in Niedersachsen neun Monate dauert, in Baden-Württemberg eine Woche. Da müssen wir viel schneller werden.
Verdankt der Meiler Emsland sein endgültiges Aus dem Wahlkampf in Niedersachsen?
Hamburg: Nein, Robert Habeck hat einen Stresstest ausgewertet, danach liegt der Mehrwert der Atomkraft in der jetzigen Situation im Promillebereich. Der Meiler Lingen würde das Netz im Norden eher verstopfen, während das in Bayern und Baden-Württemberg liegende Hauptproblem ungelöst bliebe.
Meyer: Im Norden haben wir mehr als 60 Prozent erneuerbare Energien. Wir könnten davon ja etwas nach Bayern schicken, wenn es die Netze gäbe. Im Norden gibt es keinen Strommangel, im Süden schon, deswegen ist Lingens Abschaltung rein fachlich begründet.
Schon während der Coronakrise erlebte der regelnde Staat ein Comeback. Sollte er angesichts des Spannungsverhältnisses von Gaspreisumlage, Rettungsschirmen und Übergewinnsteuer nicht die Grundversorgung wieder komplett an sich ziehen?
Meyer: Die Rekommunalisierung wesentlicher Infrastruktur gehört zu unserem Programm. Peine hat beispielsweise gerade das Krankenhaus wieder in Eigenregie übernommen. Gleiches gilt aber auch für Strom- und Wassernetze: Privatisiert liegen sie in den falschen Händen. Wir haben es gerade bei den Gasspeichern erlebt. Es fehlte an einer nationalen Gasreserve, weil jahrzehntelang die Kavernen privatisiert wurden. Die Grundversorgung muss in öffentlicher Hand liegen. Auch auf dem Wohnungsmarkt sorgen wir mit unseren Investitionen dafür, dass der Staat wieder ein größerer Player ist.
Nach den Entlastungspaketen für die Bürger verlangen nun die Unternehmen mehr Staatshilfe. Retten wir auf Kosten der kommenden Generationen?
Hamburg: Nicht einzugreifen, würde ökonomisch keinen Sinn ergeben. Wir wissen, dass wir jetzt Bürger davor bewahren müssen, ihre Wohnung zu verlieren und in Armut abzurutschen und dass wir jetzt Firmen vor der Insolvenz retten müssen. Das ist also nicht nur ein Gebot der Mitmenschlichkeit, sondern auch vorausschauend. Jedes Unternehmen, das wir retten, sichert Arbeitsplätze und zahlt auch künftig Steuern. Die Blaupause ist die Coronakrise: Bund und Land haben arbeitsteilig unterstützend eingegriffen.
In der Region umstritten ist der Bau eines dritten Gleises zwischen Hamburg und Hannover. Was präferieren die Grünen: Neubau parallel zur A7 oder Ausbau der Bestandsstrecke?
Hamburg: Zunächst mal gibt es eine Einigung, dass die Alpha-E-Variante umgesetzt und auch das Hinterland eingebunden werden muss. Das ist gerade in den ländlichen Räumen dringend nötig.
Meyer: Sinnvoll ist, erst mal den Bestand auszubauen. Diskussionen um Neubautrassen bergen die Gefahr, dass zunächst wieder gar nichts passiert. Deshalb sollten wir den Konsens, den wir im Landtag hatten, in praktische Schritte umsetzen.
Sind die Lüneburger Kämpfe ums Wasser – sowohl mit Coca Cola als auch mit Hamburg – nur Vorboten künftiger Verteilungskämpfe? Und muss das Land nicht stärker regelnd eingreifen?
Meyer: Auf jeden Fall. Das Thema Wasser steht in ganz Niedersachsen im Fokus. Wir haben als Grüne einen Antrag zum Thema Wasserschutz gestellt, den die anderen Parteien auch weitgehend aufgenommen haben, also etwa sparsame Beregnung in der Landwirtschaft durchzusetzen, zu entsiegeln und Moore zu renaturieren. Das ist eine große Aufgabe zusammen mit dem Bund. Aber wir brauchen auch regional einen Masterplan Wasser. Die Kernbotschaft ist, das Wasser in der Fläche zu halten und nicht abfließen zu lassen. Das Problembewusstsein ist allgemein da. Viele Menschen fragen sich, ob in Zeiten des Klimawandels noch ausreichend sauberes Wasser zur Verfügung steht. Es ist an der Politik, dafür zu sorgen.
Das Interview führte Joachim Zießler