Lüneburg ist seine Liebe
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/JNFGCMCPANEIL6NCFUUB2HEG3W.jpg)
Jeden Sonnabend liest Betreuerin Ingrid Bruck-Hubert ihrem Schützling Gerhard Eick aus der Landeszeitung vor. Foto: phs
Ebstorf. „Wenn ich viel Geld hätte, würde ich mir einen Lamborghini kaufen“, sagt Gerhard Eick. Daran würde er dann sein Autokennzeichen montieren – LG GE 1962 – und damit nach Lüneburg flitzen, denn: „Lüneburg ist meine Liebe.“ Doch Gerhard hat nicht viel Geld und auch keinen Führerschein. Er lebt in Ebstorf in einer betreuten Wohngemeinschaft für Menschen mit einer Behinderung. Ihn und die Stadt seines Herzens trennen 26 kaum überwindbare Kilometer.
Jeden Sonnabend wandert Gerhard darum zum Supermarkt um die Ecke und kauft sich die Landeszeitung. Dann setzt er einen Kaffee auf, breitet die LZ auf dem Schreibtisch aus und lässt sich von Betreuerin Ingrid Bruck-Hubert auf den neuesten Stand der Dinge bringen. Sie liest, er kommentiert. Das ist ein liebgewonnenes Ritual.
"In Lüneburg ist immer was los“
An diesem Tag zeigt die LZ auf der ersten Seite ein Foto mit Radfahrern. Gerhard ahnt schon, worum es geht: Radwegebau. „Und was braucht man dafür“, fragt Ingrid Bruck-Hubert. Gerhard grübelt einen Moment. „Ah, Geld! Typisch! Geld regiert die Welt.“ Ein Titelbild vom Weihnachtsmarkt wäre ihm lieber gewesen – der 57-Jährige mag Märkte. Auch ein Grund, weshalb ihm so viel an Lüneburg liegt: „Da ist immer was los.“ In Uelzen sei das anders. Zu Uelzen pflege er eine reine Geschäftsbeziehung: Mappen zusammenheften oder Etiketten auf Flaschen kleben in der Werkstatt der Stiftung „Leben leben“. Anschließend geht’s gleich wieder nach Hause. „Ich mag die Stadt überhaupt nicht“, erklärt Gerhard und zuckt entschuldigend mit den Schultern. „Das geb‘ ich gerne zu.“
Aber zurück zur Landeszeitung. Gerhard hat auch schon mal überlegt, wie es wohl wäre, sein eigenes Gesicht auf der Titelseite zu sehen, glaubt aber, dafür müsse man Politiker werden. „Und das kannste knicken. Die scheiß Politik brauch‘ ich nicht.“ Dasselbe gilt auch für den Sport. „Sport ist Mord“, findet Gerhard. Er interessiere sich mehr für die Themen Märkte und Umwelt. „Das ist wichtig!“ Und einen kleinen Verbesserungsvorschlag hat er der LZ-Redaktion auch zu unterbreiten. „Das Logo, kann man da nicht ein paar Blumen drum machen oder Herzchen? Das ist so trostlos.“
"Ich habe schon viel von ihm gelernt"
Gerhard weiß, dass er viele Dinge anders sieht. Dass manche Menschen auch sagen, dass er anders sei, und ihn schräg von der Seite anschauen. Das verletze ihn, da fühle er sich nicht ernst genommen. „Aber ich habe immer weitergemacht. Ich bin mutig.“ Gerhard findet grundsätzlich, dass die Menschen netter miteinander umgehen und positiver in die Zukunft blicken sollten. Ingrid Bruck-Hubert nickt: „Manchmal ist er so weise. Ich habe schon viel von ihm gelernt.“ Beim Blättern durch die Zeitung stößt Gerhard auf ein Fahndungsfoto. „Da hat jemand was getan, was man nicht macht. Jetzt suchen sie ihn“, erklärt Ingrid Bruck-Hubert. Gerhard ist mäßig interessiert. Dass in Amelinghausen Wohnungen für Senioren gebaut werden sollen, findet er spannender. Zumal in Amelinghausen ja auch die Heidekönigin wohne... Und die Dampflok auf Seite 17, die habe er sogar schon mal in echt gesehen. Die erinnert Gerhard auch daran, wie er mal mit fünf Jahren einen Lkw fahren durfte – angeblich ganz allein. „Die anderen haben den Hut gezogen. Da war ich vielleicht mutig, richtig mutig.“ Und mutig müsse man sein, sonst habe man in dieser Welt verloren.
Persönliche Geschichten
Gerhard lebt mit drei Mitbewohnern in einem Einfamilienhaus in Ebstorf. „Manchmal gibt’s da Streit. Wie das so ist in einer Familie. Das geht morgens los und hört abends erst wieder auf.“ Dort hat Gerhard gelernt, den Mut aufzubringen, einen eigenen Standpunkt zu vertreten. Und dort lebt auch Heinrich*, mit dem er spät abends noch schwarzen Kaffee trinkt. Der kann zwar nicht so viel mit Lüneburg anfangen, ist aber ein richtig guter Freund. Ingrid Bruck-Hubert, selbst Lüneburgerin, liest mit Gerhard zusammen die Zeitung, weil er darauf besteht – aber auch, um seine geistige Fitness zu erhalten. „Dass das so einschlägt, hätte ich allerdings nicht gedacht.“ Gerhard stellt Bezüge zu früheren Artikeln her, erinnert sich an Straßen und Gebäude, die er bei Ausflügen gesehen hat und erzählt seine persönlichen Geschichten dazu. Wie er zum Beispiel mal auf die Kanzel der St. Michaeliskirche geklettert ist, um zu gucken, wie sich das anfühlt. Auch da war Gerhard – wie immer – ziemlich mutig.
Von Anna Petersen