Sie gründen ihre Familien, machen Karriere, bauen sich eine Existenz auf – aber in der Kommunalpolitik, wo viele Entscheidungen fallen, die sie berühren, sind sie kaum vertreten. Von den 102 Mitgliedern im Lüneburger Kreistag und Stadtrat sind nur ganze 17 zwischen 35 und 50 Jahre alt. Marc Rath begab sich auf Spurensuche bei sieben von ihnen.
Was hat bei Ihnen den Ausschlag gegeben, sich kommunalpolitisch zu engagieren?
„Nicht nur Entscheidungen beklagen und mit dem Finger auf andere zeigen, sondern auch der Verantwortung stellen“, auf diesen Punkt bringt Christian-Tobias Gerlach sein Selbstverständnis. Das hat der 41-jährige Christdemokrat mit den weiteren sechs befragten Aktiven in der Lüneburger Kommunalpolitik im – wie man so sagt – besten Alter gemeinsam. Etwa mit Maik Peyko (SPD). Der 43-jährige Neetzer hatte als Jugendpfleger schon viel mit der Kommunalpolitik zu tun. Da wollte er die berufliche Kompetenz auch politisch einbringen. „Als Stimme der Jugend und Familien“ möchte er sich für ihre Belange einsetzen. Pascal Mennen kommt aus der queeren Bewegung. Dass er jetzt für die Grünen im Stadtrat sitzt, beschreibt er so: „Letztlich wollte ich an Strukturen arbeiten und diese verbessern.“
Bei Stefanie Filohn waren es die Wahlerfolge der AfD, weshalb sie es „für notwendig hielt, mich politisch zu positionieren“. Die 41-jährige Sozialdemokratin ist nicht nur als Lehrerin an Bildungs- und Sozialpolitik interessiert. Bildungsgerechtigkeit ist ihr Ziel – „die Kommunalpolitik bietet die Möglichkeit, hier aktiv Einfluss zu nehmen“. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“, hat sich Beatrice John 2021 gefragt. Die 36-jährige Bleckederin sah die „Chance auf einen Umschwung“ und trat als Parteilose für die Grünen an. Ihr Engagement sei aber auch eine Reaktion darauf, „dass mich Möglichkeiten der Beteiligung und Partizipation zuletzt nicht erreicht haben“.
Bei Stefan Mues liegt all das schon 20 Jahre zurück. Damals fragte den heute 49-Jährigen ein guter Freund, ob er in der Wählergemeinschaft mitmachen wolle. „Da ich hier lebe und immer vor Ort bin, bot es sich an, sich auch politisch zu engagieren“, erinnert sich der Deutsch Everner.
Wie waren Ihre ersten Gehversuche – gab es eine Förderung oder auch Widerstand?
„Von Beginn an motiviert und unterstützt“ fühlte sich Pascal Mennen bei den Grünen. „Ich wurde gut aufgenommen“, berichtet Stefan Mues. Maik Peyko sieht Politik als ständigen Lernprozess, „gerade als Neuling“. Als geladener Experte sei er schon vorher anerkannt gewesen. „Letztlich haben meine guten Wahlergebnisse für einen gewissen Respekt gesorgt“, ist er überzeugt. Stefanie Filohn lobt die Programme ihrer SPD, die auch Frauen gezielt fördern: „Hier bekam ich die Möglichkeit, mein politisches Profil zu finden und Netzwerke aufzubauen.“

Teamarbeit und Kommunikation in der Fraktion habe sie „als besonders konstruktiv empfunden“, bekennt Beatrice John. Es gebe viele Starthilfen von der Verwaltung. Was sie sich noch mehr wünsche, „ist der bessere Einblick in die Bereiche der Verwaltung, die meine Ausschussarbeit besonders betreffen“.
„Sofort gut integriert“ fand sich Marco Schulze. Zum Lernprozess gehöre aber auch ein „langer Atem“ und „das Bohren dicker Bretter“. Und Christian-Tobias Gerlach macht deutlich: „Ein Problem stellte in der Anfangszeit der Widerstand einiger ,Platzhirsche‘ dar, die an meiner Stelle lieber die eigenen Protegés gesehen hätten. Dies war eher eigenen Interessen und dem Ziel des eigenen ,Machterhalts‘ geschuldet und gehört in gewisser Weise zur Politik dazu.“
Was sind die Gründe, warum Ihre Altersgruppe hier unterrepräsentiert ist?
„Mit 35 bis 50 steht man in der Regel voll im Beruf, baut sein Haus, gründet die Familie... – da bleibt wenig Zeit für die Politik“, weiß Stefan Mues. Marco Schulze beobachtet „ein nachlassendes, gesellschaftliches Engagement“. „Viele wissen nicht, wie der Stadtrat arbeitet“, setzt Pascal Mennen auf mehr „Sichtbarkeit“. Auf „einen gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozess, der auch die Freiräume bietet, sich ehrenamtlich mit der erforderlichen Zeit und Qualität engagieren zu können“, hofft Christian-Tobias Gerlach. Stefanie Filohn wird noch konkreter: „Es braucht eine gesamtgesellschaftliche Wende, die die Last auf Männer und Frauen gleichermaßen verteilt. Erst dann haben wir eine Chance, mehr Frauen meines Alters für die Kommunalpolitik zu gewinnen.“

Beatrice John sieht es so: „Kommunalpolitik wird sicherlich auch als konfliktintensiv wahrgenommen – und wirkt dadurch abschreckend.“ Mues hat indes auch Hoffnung: „Dieses Mal sind viele Jüngere in die Räte eingezogen“, setzt er darauf, „dass sie wie ich in der Politik ,hängenbleiben’.“ Einen Generationenwechsel beobachtet auch Maik Peyko: „Vor zehn oder fünf Jahren waren in den Parteien viele Plätze für Nachrücker im mittleren Alter noch durch die älteren Platzhirsche belegt.“
Wie reagiert Ihr Umfeld auf Ihr Engagement?
„Freunde, Familie und Kollegen haben mich in meinem politischen Engagement stets bestärkt“, freut sich Stefanie Filohn. „In der Regel positiv. Zumal, wenn man mit Rat und Tat helfen kann“, ergänzt Stefan Mues. Maik Peyko hat sich ein großes, digitales Umfeld aufgebaut. Über seine 5000 Kontakte bekomme er „stets eine direkte, verlässliche Rückmeldung“.

Christian-Tobias Gerlach verweist dagegen auf ein „Spannungsfeld“. Privat vermeide er politische Diskussionen, kommen sie aber auf, vertrete er auch seine Position. Nicht jeder und jede teile seine politischen Ansätze, räumt auch Pascal Mennen ein. „Von Anerkennung bis Verwunderung ist alles dabei“, berichtet Marco Schulze. Beatrice John hat noch eine andere Erfahrung gemacht: „Ich habe den Eindruck, dass auch Personen, die vorher eher unpolitisch waren, nun durch den eigenen direkten Kontakt Themen viel aufmerksamer verfolgen.“
Werden die Belange Ihrer Generation ausreichend berücksichtigt?
„Was mich umtreibt, ist die Frage nach der Lebensqualität und der Zukunftsfähigkeit bei den kommenden Risiken“, blickt Beatrice John voraus. „Bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist noch einiges zu tun“, betont Stefanie Filohn. „Man kann nur etwas ändern, wenn man sich einbringt“, beschreibt es Stefan Mues. „Der Stadtrat beschäftigt sich mit Themen, die auch mich und meine Altersgruppe tangieren. Kinder und Jugendliche werden allerdings oft nicht gesehen und gehört, hier müssten wir mehr einbinden und zuhören“, findet Pascal Mennen.

Christian-Tobias Gerlach unterstreicht hingegen, dass das „große Ganze“ im Fokus liegen müsse, und Marco Schulze blickt auf den Bundestag, in dem die 35- bis 50-Jährigen die größte Gruppe ausmachen, sodass er „ausreichend Berücksichtigung“ erwartet. „Nicht in starren Grenzen denken“, ist hier auch das Credo von Maik Peyko.
Welche Veränderungen wünschen Sie sich?
Der direkte Dialog sei wichtig, betont Maik Peyko: „Ein respektvolles Miteinander funktioniert nur, wenn Verständnis für die jeweiligen Bedürfnisse und Vorstellungen des anderen und soziale Gerechtigkeit vorhanden sind.“ „Wenn ich einige gute Leute überzeugen kann, auch für etwas einzutreten, freut mich das“, sagt Stefan Mues. „Ich denke, wer sich engagieren will, tut es letztlich auch“, ist Christian-Tobias Gerlach überzeugt. Pascal Mennen plädiert für veränderte Formen – „an junge Mütter und Väter sowie voll Berufstätige angepasste Zeiten sowie flexible Teilnahme auch online“.

Stefanie Filohn bekräftigt, dass ehrenamtliches Engagement „insgesamt eine Aufwertung erfahren“ müsse. Beatrice John ist für „mehr Experimente zu aufsuchender Beteiligung“. Diese soll nicht „als erweitertes Beschwerdemanagement verstanden werden, sondern als ernstgemeintes und transparentes Angebot, auch positive Entwicklungen mitzugestalten“. Politik müsse wieder näher zu den Menschen kommen, unterstreicht Marco Schulze: „Nur der permanente Austausch vor Ort stellt sicher, dass die wirklichen Sorgen und Nöte bekannt sind und die Menschen sich wirklich repräsentiert fühlen.“
