Gastbeitrag

Dr. Heike Düselder zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus: Die Pforten der Erinnerung

Der Eisenbahnwaggon im Wandrahmpark erinnert seit März 2015 an die getöteten Häftlinge, die, in einem solchen Waggon eingepfercht, auf dem Lüneburger Bahnhof bei einem Bombenangriff ums Leben kamen.

Der Eisenbahnwaggon im Wandrahmpark erinnert seit März 2015 an die getöteten Häftlinge, die, in einem solchen Waggon eingepfercht, auf dem Lüneburger Bahnhof bei einem Bombenangriff ums Leben kamen.

Lüneburg. In diesen Monaten, in denen fast täglich Meldungen über Kriegsereignisse und Gewalt gegen Menschen in der Ukraine die Medien fluten, gibt ein Gedenktag auch Anlass, über das Unfassbare nachzudenken. Eine ganze Generation in Deutschland ist im Frieden aufgewachsen, mit einem Demokratieverständnis und in Sicherheit. Und nun – ein Krieg auf europäischem Boden. Ein Angriffskrieg auf ein Land, das seine Souveränität bewahren will, das zusammenhält, was verloren zu gehen droht: Identität und Kultur.

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Kurz vor Weihnachten schrieb Marian Turski, Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees: „Vor 77 Jahren wurde ich von der sowjetrussischen Armee befreit. Bis an mein Lebensende werde ich die Dankbarkeit gegenüber der Armee, die mir nach Au­schwitz und Buchenwald in Theresienstadt die Freiheit brachte, in Erinnerung behalten. Doch heute – 77 Jahre später – kann ich nicht gleichgültig sein, kann ich nicht schweigen, wenn die russische Armee heute der Angreifer auf ukrainischem Boden ist.“

Himmler plante eine deutsche Siedlung in der Ukraine

Seit vielen Monaten sammeln und spenden die Menschen auch in Lüneburg für die Ukraine. Die Hilfstransporte gehen überwiegend nach Winnyzja, das im Zweiten Weltkrieg die grausame Besetzung durch deutsche Truppen erlebte. Mehrere Konzentrationslager wurden gebaut, in Stadtnähe ließ Heinrich Himmler die Kolonie „Hegewald“ errichten, in der mit 10.000 sogenannten „Volksdeutschen“ eine deutsche Siedlung in der Ukraine geplant war. 1939 lebten über 33.000 Juden in Winnyzja, ein Drittel der Bevölkerung. Unmittelbar nach dem Krieg waren es nicht einmal mehr 100. Die übrigen waren Opfer des Holocaust. Mehr als zwei Millionen jüdische Frauen, Männer und Kinder wurden zwischen 1941 und 1944 auf dem Gebiet der heutigen Ukraine ermordet. Ihnen und allen anderen Opfern des Holocaust ist der 27. Januar als Gedenktag gewidmet.

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Die Ambivalenzen in unserer Geschichte lassen sich nur aushalten, wenn die Formen der Erinnerungskultur eine differenzierte Perspektive und ein redliches Aufarbeiten der Vergangenheit beinhalten. Sind die Kriegsereignisse in der Ukraine in unserer Wahrnehmung näher als die Gewalt in vielen Krisenregionen der Welt? Die vielen institutionellen und privaten Hilfeleistungen spiegeln großes Mitgefühl, Respekt vor dem verzweifelten Kampf der Ukraine um die Freiheit, die Ächtung eines Angriffskrieges in unseren Zeiten.

Gedenktage sind nötig um die Erinnerung wach zu halten

Kürzlich hatte ich das große und vielleicht einmalige Glück, einem hundertjährigen Lüneburger, den ich sehr achte, wieder zu begegnen: Wolfgang Gentsch. Anlässlich seines bevorstehenden Geburtstages erzählte er von seinem Leben und reflektierte im Hinblick auf seinen Einsatz als junger Mann bei der Marine: „Wir haben daran geglaubt, in den Krieg ziehen zu müssen. Wie bescheuert war das denn!“ Dieser offene und ehrliche Satz ist eine Pforte der Erinnerung. Wer sie öffnet, lässt zu, dass Verstehen möglich wird und sich niederschlägt in einer nachhaltigen Wahrnehmung all dessen, was Menschen tun und was sie verhindern können.

Ein Gedenktag wie der 27. Januar kann dazu beitragen, sich zu erinnern an Geschehnisse, die nie wieder geschehen dürfen, zum Gedenken an die Opfer aufzurufen und den Frieden als höchstes Gut zu betonen. Zahlreiche Gedenkveranstaltungen finden in diesen Tagen statt. Zeitzeugen nehmen es mit immer größeren Mühen auf sich, aus ihren Erinnerungen zu berichten und zu ermahnen. Doch wie hält man Erinnerungen am Leben, wenn es einmal keine Zeitzeugen mehr geben wird? Es besteht die Gefahr, dass gerade dann erneut Menschen postulieren, es möge doch mal ein Schlussstrich gezogen werden. Nicht zuletzt aus diesem Grund braucht es Gedenktage wie den 27. Januar.

„Marcus Heinemann im Kreis seiner Kinder und Enkelkinder – er gehörte zu den angesehenen Bürgern und Mäzenen der Stadt und wurde 1908 zum Ehrenbürger ernannt.“

„Marcus Heinemann im Kreis seiner Kinder und Enkelkinder – er gehörte zu den angesehenen Bürgern und Mäzenen der Stadt und wurde 1908 zum Ehrenbürger ernannt.“

Viele Jahre hat man sich schwer getan mit diesem Erinnern. Erst 2005 erklärten die Vereinten Nationen den 27. Januar zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“. Schon früher, 1996, hatte der damalige Bundespräsident Roman Herzog diesen Tag zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erklärt und gemahnt: „Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“

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Mit jeder Generation und dem jeweiligen historischen Zeitabstand verändern sich die Zugänge zur Geschichte und die Erinnerung an historische Ereignisse und Personen. Auch unsere Denkmäler sind daher zeitgebunden. Manche Denkmäler sind aus heutiger Sicht in den Augen vieler fragwürdig. Sie geben Anlass zu Unverständnis bis zur Verärgerung und dem offen vorgetragenen Wunsch, man möge sie dem öffentlichen Zugriff entziehen und sie ins Museum stecken oder ganz verschwinden lassen. Denkmäler sollten – müssen – heute Lernorte sein. Sie sind Zeitzeugen, die erklärt werden müssen, um zu verhindern, dass Missverständnisse, Abwertungen oder Fehldeutungen mit ihnen in Verbindung gebracht werden.

Schwieriger Weg zur Erinnerungskultur

Auch in Lüneburg war der Weg zu einer Erinnerungskultur, die die kritische Reflexion der Ereignisse und die Verantwortung für das Geschehene umfasste, kein geradliniger Prozess. Ein erster wichtiger Schritt war die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit Lüneburgs. Den Arbeiten der Geschichtswerkstatt und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) fügten sich die Forschungen von Historikern und Historikerinnen an. Die öffentlich geführten Auseinandersetzungen seit dem „Gröning-Prozess“, dem vermeintlich letzten Gerichtsprozess gegen einen Nazi-Täter vor dem Landgericht Lüneburg am 21. April 2015, gaben den Ausschlag für eine intensive Ausein-andersetzung mit den Denkmälern in der Stadt.

Stein des Anstoßes war der Gedenkstein für die 110. Infanterie-Division, die in Lüneburg stationiert und am Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion unmittelbar beteiligt war. Die Kritik richtete sich darauf, dass der Gedenkstein die Gefallenen ehrt und die Informationstafel die Mitverantwortung der 110. Inf. Div. für die Verbrechen in Weißrussland und insbesondere dem Massaker von Ozarichi 1944 nicht nennt. Dieser Gedenkstein bleibt schmerzhaft in seiner Aussage, verletzend für die Nachfahren der Opfer, unverständlich und irritierend für die nachfolgenden Generationen. Verhüllen und Zerstören indes sind nicht der richtige Weg. Aushalten, Aufarbeiten, Verpflichtung und Verantwortung, Erinnern bieten die Chance, auch den kommenden Generationen die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit möglich zu machen und damit Erinnerungskultur zu gestalten.

Die Erinnerung hat feste Plätze in der Stadt

Ein Meilenstein in Lüneburg war die Einweihung der erweiterten Synagogengedenkstätte am 9. November 2018 nach mehr als zehnjähriger Diskussion. Bewegend war die Einweihung vor allem durch die Anwesenheit von Nachfahren der ehemals in Lüneburg lebenden jüdischen Familien. Die Kontakte bestanden damals bereits durch das von der Historikerin Anneke de Rudder am Museum Lüneburg durchgeführte Provenienzforschungsprojekt. 2015, im Jahr der Eröffnung des Museums und anlässlich der Rückgabe von Objekten an die Familie Heinemann, besuchten mehr als vierzig Mitglieder der Familie Heinemann Lüneburg. Ihre Anwesenheit und ihre Freude, sich auf den Spuren ihrer Familie zu begegnen, überwog zumindest zeitweise die Trauer über den großen Verlust der jüdischen Gemeinde in Lüneburg. Die Erinnerung hat einen festen und dauerhaften Platz in der Synagogengedenkstätte, auf den Stolpersteinen in der Stadt, in unserem Museum, das sich diesem Teil der Geschichte und den Menschen, die wir verloren haben, in besonderer Weise verpflichtet fühlt. Gedenktage wie der heutige tragen dazu bei, niemanden in Vergessenheit geraten zu lassen, der unschuldig sein Leben verloren hat.

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Prof. Dr. Heike Düselder ist Historikerin, Hochschullehrerin und Direktorin des Museums Lüneburg.

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