In den sozialen Berufen und der Pflege liege derzeit vieles im Argen, die Arbeitsbedingungen sind schlecht, sagt Verdi-Bezirksgeschäftsführer Jan Orbach im LZ-Interview. Corona habe bei den Problemen wie ein Brandbeschleuniger gewirkt.
Lüneburg. „Lasst uns mal reden!“ appellierte Jan Orbach vor Hunderten Zuhörern an die Beschäftigten aus verschiedenen Dienstleistungsbereichen. Die Rede am diesjährigen 1. Mai am Lamberti-Platz in Lüneburg war gleichzeitig ein Aufruf zum Arbeitskampf, dem im Rahmen eines Warnstreiks beispielsweise Erzieherinnen und Erzieher in Stadt und Landkreis Lüneburg am Mittwoch folgten (LZ berichtete). Der gebürtige Lüneburger Orbach, aufgewachsen in Scharnebeck, ist seit rund einem Jahr Geschäftsführer der Vereinten Dienstleistungsgesellschaft (Verdi) im Bezirk Hannover-Heide-Weser, zu dem auch Lüneburg gehört. LZ-Redakteur Dennis Thomas sprach mit Orbach über laufende und anstehende Tarifkonflikte und wie Corona als Brandbeschleuniger wirkt.
Derzeit befinden sich auch im Dienstleistungsbereich relativ viele Branchen im Tarifkonflikt, ein Schwerpunkt derzeit sind die sozialen Berufe von der Kita bis zur Behindertenhilfe. Brauchte es erst den 1. Mai, den Tag der Arbeit, um Verdi wachzurütteln oder haben Sie nach zwei Jahren Corona-Pandemie jetzt einfach besonderen Nachholbedarf?
Jan Orbach: Der 1. Mai ist natürlich ein symbolischer Tag nicht nur für Verdi, sondern für die gesamte Gewerkschaftsbewegung. Gleichzeitig liegt es an uns als Gewerkschaften, wie wir den gestalten. Und wir als DGB-Gewerkschaften in Lüneburg sind absolut dagegen, daraus so einen Folklore-Tag zu machen. Der Tag bedeutet für uns, den Finger in die Wunde zu legen und die Probleme zu benennen, die wir in der Region bemerken.
Das war aber kein Startschuss, sondern das sind Prozesse, die sich schon länger hinziehen, sowohl für die Tarifrunde im Sozialen und Erziehungsdienst als auch für das Städtische Klinikum Lüneburg. Die Kolleginnen und Kollegen haben den Tag genutzt, um mit ihren Problemen, zum Beispiel die Überlastung der Beschäftigten im Klinikum, direkt an die Öffentlichkeit zu gehen. Beim Klinikum geht es um die Pflege von Menschen, beim Sozial- und Erziehungsdienst geht es auch um die Kitas, und das sind alles Themen, die uns als Gesellschaft alle angehen.
Die Betroffenheit haben in den vergangenen Tagen in Stadt und Kreis Lüneburg auch die Kita-Eltern zu spüren bekommen als die Erzieherinnen und Erzieher im Zuge der Warnstreiks in Lüneburg auf die Straße gegangen sind. Was liegt da aus Ihrer Sicht besonders im Argen?
In den Sozial- und Erziehungsdiensten liegt ganz schön viel im Argen ... Das fängt bei der Entlohnung an: Ich stelle mir immer wieder die Frage, warum verdient eine Erzieherin, die eine viereinhalbjährige schulische Ausbildung hat, während der sie kein Geld bekommt, so viel weniger als eine Grundschullehrerin?
Die Erzieherinnen müssen einfach höher bezahlt werden. Außerdem fordern wir bessere Arbeitsbedingungen: Wir brauchen mehr Zeit für mittelbare pädagogische Arbeit, also Vor- und Nachbereitung, Netzwerkarbeit, Dokumentation und so weiter. Und es muss Konsequenzen geben bei starken Belastungssituationen.
Belastungen wie in der Corona-Pandemie?
Ja, Corona hat auf viele Probleme auch in den sozialen Berufen wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Die Gesellschaft konnte sich größtenteils physisch absondern und vor Corona schützen. Sei es durch Maskentragen, Abstandhalten oder durch Maßnahmen wie Kurzarbeit oder Homeoffice. Das ist alles in der sozialen Arbeit so nicht möglich.
Die Kolleginnen und Kollegen sitzen ohne Maske und ohne Abstand, sei es mit Kindern oder zu betreuenden Familien zusammen, und machen da ihre fachlich hochqualifizierte Arbeit. Und das wird nicht honoriert, während dieses Virus über unsere Erde tobt und schrecklichste Auswirkungen hat. Und das ist der eigentliche Brandbeschleuniger: Die Ignoranz der Arbeitgeber gegenüber der Mehrleistung der Kolleginnen und Kollegen, die auch noch die vielen Personalausfälle ausgleichen müssen.
Diese Problemlage lässt sich wahrscheinlich ähnlich auf den Pflegebereich übertragen. Bei der Demo am 1. Mai in Lüneburg wurde ungewöhnlich laut Kritik von Beschäftigten des Städtischen Klinikums geäußert. Warum kocht da dort jetzt hoch?
Ähnlich wie bei den Sozial- und Erziehungsdiensten gibt es auch für die Probleme im Städtischen Klinikum seit langem keine politischen Lösungsansätze. Es gibt keine ernstzunehmenden Gesprächsangebote, um mit den Beschäftigten über ihre Unzufriedenheit zu reden. Und diese Unzufriedenheit rührt aus der massiven Überlastung her, mit vielen auch langzeiterkrankten Kolleginnen und Kollegen und der starken Branchenflucht.
Und das hat etwas mit den Arbeitsbedingungen zu tun. Es kann nicht sein, dass in Kliniken in dieser Republik nachts einzelne Pflegekräfte allein für eine ganze Station zuständig sind. Dass die Beschäftigten irgendwann aufbegehren, ist dann normal und der 1. Mai war jetzt ein erstes Ventil, um Öffentlichkeit zu schaffen.
Aber die Probleme scheint es den Äußerungen nach schon länger zu geben. Also nochmal: Warum erst jetzt die laute Kritik?
Das hat auch etwas mit dem Engagement von Verdi vor Ort zu tun. Und gleichzeitig erleben die Kolleginnen und Kollegen bundesweit an anderen Kliniken, dass man sich wehren kann und zu Ergebnissen kommt. Wir haben bundesweit an zahlreichen Kliniken Tarifabschlüsse zur Arbeitsentlastung verhandelt.
Das berühmteste Beispiel ist die Charité und die Vivantes-Kliniken in Berlin. Und zum 1. Mai sind auch die sechs Uni-Kliniken des Landes NRW mit Unterstützung von Verdi in den Arbeitskampf getreten. Und das macht uns jetzt auch Mut in Lüneburg.
Mut brauchen Sie wohl noch an anderer Stelle, wo Sie sich um bessere Arbeitsbedingungen bemühen, und zwar in der Logistik. In der Region hat Verdi immer wieder auch vor dem Amazon-Logistik-Zentrum in Winsen/Luhe seine Fahnen geschwenkt, blieb aber wohl ein einsamer Rufer im Walde?
Ein einsamer Rufer ist Verdi bei Amazon auf jeden Fall. Wir erleben natürlich einen Konzern, der sehr anschlussfähig ist an die Komsumbedürfnisse der Gesellschaft. Das passt für viele wunderbar. Vergessen wird aber der Mensch dahinter, der das alles bereitstellt. Und in Winsen/Luhe sind das im Logistikzentrum 1000 bis 1500 Beschäftigte, so genau wissen wir das ehrlich gesagt noch nicht.
Und wir wählen dort derzeit einen Betriebsrat. Mit der Unterstützung von Verdi haben wir da unter anderem mindestens zwei Listen, die zur Wahl antreten. Andere Listen werden sicher auch arbeitgeberorientiert sein. Wir wollen die Betriebsräte nutzen, um Zutritt zu den Logistikzentren von Amazon zu bekommen, um Macht aufzubauen, damit wir die Arbeitsbedingungen tariflich absichern können - und zwar unter Mitbestimmung der Beschäftigten.
Bei all diesen Problemfeldern in den verschiedenen Branchen: Was lässt Sie glauben, dass Sie als Verdi in Anbetracht der sich abschwächenden wirtschaftlichen Entwicklung erfolgreich sein können? Das kostet schließlich alles Geld.
Die wirtschaftliche Entwicklung ist immer wieder ein Feigenblatt der Arbeitgeber, für die ist es immer eine schlechte Zeit. Ich mache jetzt Tarifarbeit seit elf Jahren, und wahrscheinlich ist es sogar schon seit 111 Jahren so, dass es aus Arbeitgebersicht immer der falsche Zeitpunkt ist für eine Tarifrunde, um Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Vor sieben Jahren wurden die Flüchtlinge vorgeschoben, dann war es die wirtschaftliche Lage, jetzt der Ukraine-Krieg. Wir brauchen keine Begründung dafür, warum wir das nicht machen sollten. Die Arbeitsbedingungen sind so schlecht wie sie sind, und der Druck ist für die Kolleginnen und Kollegen nicht mehr aushaltbar, ob im Städtischen Klinikum, in den Sozial- und Erziehungsdiensten oder in der Logistik.