Amazons erste True-Crime-Serie „Gefesselt“: Lasst Männlichkeit nie wieder so toxisch werden!
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Oliver Masucci als Schwerverbrecher Raik Doormann in einer Szene der True-Crime-Serie „Gefesselt“.
© Quelle: Amazon Prime Video/dpa
Hamburg. Die Abgründe toxischer Männlichkeit sind tief und dunkel. Mitunter buchstäblich wie im Folterkeller eines leibhaftigen Serienkillers, meist metaphorisch wie im Kollegium jener Polizistin, die ihn Anfang der Neunziger überführen half. Wenn Frauen aus derart verschiedener Perspektive so offensichtlich sexualisierter Macht unterworfen sind, ist es eine Ironie des Schicksals, dass die aktuell anschaulichste Fiktion darüber beim Videoportal des machtgeilen Alphatiers Jeff Bezos läuft. Aber sie wirkt!
Amazon Prime stellt die „German Crime Story“ des real existierenden Säurefassmörders Lutz Reinstrom als sechsteiligen Thriller nach. Dass die Serie mit dem Untertitel „Gefesselt“ läuft, hat nur oberflächlich damit zu tun, wie der Täter seine Opfer gefügig machte. Mitte der Achtziger war Raik Doormann – so sein Serienname – nämlich nicht nur für außergewöhnlich abscheuliche Verbrechen verantwortlich; das Drehbuch von Michael Proehl und Dirk Morgenstern stellt sie nun endlich in den Kontext ihrer Epoche.
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Tiefschlag für den Macho aus Überzeugung
Nach der geistig-moralischen Wende trägt auch Doormann Abwehrgefechte gegen den Zeitgeist aus. Das Pelzgeschäft des Kürschners im Hamburger Speckgürtel gerät ebenso außer Mode wie sein Frauenbild. Arbeits-, aber nie hoffnungslos, hält er sich durch Sexismus und Astrologie über Wasser, während seine Frau das Geld der bürgerlichen Kleinfamilie verdient – ein Tiefschlag für diesen Macho aus Überzeugung, dem Oliver Masucci mit Schnauzbart, Vokuhila und Kassenbrille prachtvolle Selbstgerechtigkeit verpasst.
Schon die eingefügten Zukunftsausblicke jedoch zeigen, wohin ihn das testosterongesättigte Ego bringt: 1992 muss er sich vor dem Hamburger Landgericht für räuberische Freiheitsberaubung der Freundin (Valentina Sauca) seines Lehrherren (Sylvester Groth) verantworten, die er im Atomschutzbunker unterm Reihenhaus gefangen hielt, um Geld für seinen Traum zu erpressen: die Auswanderung nach Costa Rica. Der Prozess aber zeigt, dass es dem Regisseur Florian Schwarz keinesfalls um ein weiteres Stück massenmordsmäßiger True Crime mit Schockelementen geht.
„Gefesselt“ ist Paradebeispiel systemischer Ungleichbehandlung
So, wie die Netflix-Serie „Monster“ gerade den Serienkiller Jeffrey Dahmer im rassistischen Licht der US-Gesellschaft jener Tage porträtiert, machen deutsche Herren der Schöpfung in Uniform oder Robe Doormanns Opfer unterm Gelächter des Saalpublikums zur Mittäterin und „Gefesselt“ damit zum Paradebeispiel systemischer Ungleichbehandlung vor Recht und Ordnung, die den Täter mit einer lächerlich milden Strafe davonkommen lässt – wäre Marianne Atzeroth-Freier nicht gewesen.
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Grandioser Hauptdarsteller: Oliver Masucci in „Gefesselt“.
© Quelle: Neue Bioskop Television
Nach dem brillanten Regieeinfall, die mitschuldigen Männer aus Justiz und Polizei das frauenverachtende Urteil ins Ohr der weinenden Geisel flüstern zu lassen, verfolgt Atzeroth-Freiers Amazon-Alter-Ego Nela Langenbeck (Angelina Häntsch) eigenmächtig Spuren ungeklärter Taten des Freigängers mit Aussicht auf rasche Haftentlassung. Dabei stößt die einzige Frau im Morddezernat zwar beherzt an gläserne Decken, ohne als furchtlose Feministin heroisiert zu werden. Sie treibt die Serie allerdings weitere vier Folgen spannend voran und macht „Gefesselt“ mit zum Besten, was kriminalistisches Historytainment hergibt.
Denn anders als üblich hat Schwarz es nicht zum musealen Karneval, sondern im Stil der wahren Wendezeit dekoriert: beigegrau wie die Vorstadtbanalität des Bösen ihrer Hauptfigur. Gespielt vom Schwaben Masucci hätte man ihr zwar besser den Hamburger Schnack erspart und uns ein paar gewaltverliebte Folterszenen. Über die Täterperspektive zulasten Hinterbliebener hinaus allerdings ist „Gefesselt“ von der Inszenierung übers Spiel bis zum angenehm hitfreien Soundtrack (Sven Rossenbach, Florian van Volxem) gelungene True Crime mit Message. Sie lautet: Lasst Männlichkeit nie wieder so toxisch werden!
„German Crime Story: Gefesselt“ ist ab dem 13. Januar bei Amazon Prime Video streambar.