Punk ist tot

Sex-Pistols-Frontmann Johnny Rotten will zum ESC

Will zum Eurovision Song Contest: Der frühere Sex-Pistols-Frontman Johnny Rotten alias John Lydon bei einem Radiointerview im Jahr 2022.

Will zum Eurovision Song Contest: Der frühere Sex-Pistols-Frontman Johnny Rotten alias John Lydon bei einem Radiointerview im Jahr 2022.

Nein, der Mann trägt keine Sicherheitsnadeln mehr im Gesicht. Die Zähne sind gerichtet, die explosive Frisur halbwegs gebändigt. John Lydon alias Johnny Rotten (66), Ex-Sänger der Punkband The Sex Pistols, sieht heute überwiegend unverrottet aus – eher wie ein Spätkonfirmand, den seine Mutter für ein Vorstellungsgespräch in der Autowerkstatt notdürftig als Erwachsenen verkleidet hat. Nur der stechende Blick verrät noch einen Hauch der alten Weltverhöhnung. Jetzt hat die Punklegende Großes vor: Johnny Rotten will Irland, das Mutterland seiner Eltern, beim Eurovision Song Contest im Mai in Liverpool vertreten.

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Da prallen Welten aufeinander. Die Pistols zerlegten ab 1975 in nur vier Jahren mit nur drei Akkorden kompromisslos den Pop und gerierten sich – im Verein mit den Ramones oder The Clash – als radikale Normverweigerer. Schnell, hart, laut, vorsätzlich dilettantisch, ohne Soli, glashart und radikal. Und immer: dagegen („Wir sind die einzige ehrliche Band seit 2000 Millionen Jahren“).

Die Sex Pistols in den Siebzigerjahren (von links): Gitarrist Steve Jones, Bassist Sid Vicious, Sänger Johnny Rotten und Schlagzeuger Paul Cook.

Die Sex Pistols in den Siebzigerjahren (von links): Gitarrist Steve Jones, Bassist Sid Vicious, Sänger Johnny Rotten und Schlagzeuger Paul Cook.

Johnny Rotten war damals Rebell vom Dienst, Bürgerschreck und Medienliebling. Er und Pistols-Gründer Malcolm McLaren wurden die schrillen Stimmen der frustrierten, vom Klassensystem und der Wirtschaftskrise ausgebremsten britischen Jugend. „No future“ war der Slogan zum diffusen Groll, der Punk gebar. Modedesignerin Vivienne Westwood, gerade kurz vor Neujahr gestorben, kreierte damals den kaputten Look mit Nietenarmband, zerrissenem T‑Shirt und Sicherheitsnadel, dem kleinen Piks ins Fleisch des Establishments. Die Band lebte und starb schnell. Ab und an gab es Reunions. Aber am Ende stritten die Ex-Kollegen Paul Cook, Steve Jones und John Lydon um die Rechte an ihren Songs, ausgelöst von der gerade angelaufenen Disney+-Serie „Pistol“ über die Bandhistorie.

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Ein Liebeslied für seine kranke Frau

Und nun: der ESC? Dieses durchkommerzialisierte Konsenspop-Spektakel? Wie passt das zu Johnny Rotten? Die Antwort ist: gar nicht. Und damit erfüllt der Plan exakt die radikal individualistischen Lebenskriterien der alten Sex Pistols: Tue stets, was niemand erwartet.

Für den Wettbewerb hat Lydon mit seiner Langzeitband Public Image Ltd („PiL“) eine überraschend leise Ballade namens „Hawaii“ geschrieben – von Punk so weit entfernt wie Max Raabe. Es ist eine sommerliche Hymne an seine 15 Jahre ältere Frau Nora Forster, die an Alzheimerdemenz erkrankt ist. „Das ist eine Seite von mir, die die meisten nicht kennen – oder nicht kennen wollen“, sagte Lydon dem irischen Radiosender RTÉ 1. Zunächst aber muss er sich im Dubliner Vorentscheid am 3. Februar gegen fünf Mitbewerber durchsetzen.

„Jede Art, dir auf die Nerven zu gehen, war ihnen recht“: Sex-Pistols-Sänger Johnny Rotten (links) und Gitarrist Steve Jones bei einem Auftritt in München.

„Jede Art, dir auf die Nerven zu gehen, war ihnen recht“: Sex-Pistols-Sänger Johnny Rotten (links) und Gitarrist Steve Jones bei einem Auftritt in München.

Das Geschäft der Provokation beherrscht er noch immer. Der in Los Angeles lebende Lydon, der die britische, irische und amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt, irritierte zuletzt als Trump-Sympathisant und Brexit-Versteher. Doch wie ernst er all das meint, ist offen. Oder wie Komiker Ricky Gervais jüngst feststellte: „Es gibt da diesen verrückten Mythos, dass Punk eine linke Revolution gewesen sei. War es nicht. Es war Rock ’n’ Roll mit Sicherheitsnadeln. Jede Art, dir auf die Nerven zu gehen, war ihnen recht.“

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Der ESC hat schon allerhand ertragen

Ein Hauch Punkkultur beim ESC also? Es wäre nicht das erste Mal, dass domestizierte Ex-Anarchos den ehrwürdigen Sängerwettstreit aufmischen. Am Ende war ja auch Guildo Horn irgendwie Kuschelpunk. Der ESC hat schon irisches Gummigeflügel, polnische Butterstampferinnen, zottelige Gorillas und die dürren Liedlein deutscher Castingstars ertragen. Da fällt das Erscheinen eines Ex-Punks kaum ins Gewicht. Die Frage ist nur, ob ein Punksong nach alter Väter Sitte für Lydon nicht die bessere Wahl gewesen wäre. So richtig dreckiger Rotzrock hat beim Song Contest zwar noch nie gewonnen – dafür aber finnisch-ironischer Pussy-Metal wie „Hard Rock Hallelujah“ (Lordi 2006) oder charismatischer Latzhosenrock von Måneskin aus Italien („Zitti e buoni“, 2021). Für den ESC wäre Lydons Teilnahme zweifellos eine Bereicherung. Für den Punk insgesamt eher ein Rückschritt.

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