Apothekerin über Lieferengpässe 2022: „Es ist eine Katastrophe“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/RLG23573XBFRJJD2HX7II6DSFQ.jpeg)
Medikamente liegen im Lager einer Apotheke.
© Quelle: Waltraud Grubitzsch/dpa
„Es ist eine Katastrophe – gerade jetzt im Winter“, sagt Dr. Gabriele Röscheisen-Pfeifer, Apothekerin im niedersächsischen Oldenburg. „Fiebersäfte und Fieberzäpfchen sind immer noch nicht verlässlich lieferbar. Man kriegt dann zwar immer mal zwei Packungen hiervon, drei davon, aber das reicht bei Weitem nicht aus.“ Also werden Fiebersäfte von den Apothekerinnen und Apothekern (frei-)zeitintensiv selbst gemischt und das schon, seit der Mangel im Frühsommer erstmals publik wurde. Seither hat sich die Liefersituation noch verschlimmert.
Dramatische Situation, „weil auch die Antibiotika-Säfte fehlen“
„Inzwischen gießen wir schon Paracetamolzäpfchen“, so Röscheisen-Pfeifer, „weil gerade die niedrigen Dosierungen für Kleinkinder und Frühchen nicht lieferbar sind und Zäpfchen für diese Patienten die optimale Darreichungsform sind.“ Die Rezepturherstellung gehört zu den Kernkompetenzen der Vor-Ort-Apotheken, sagt sie nicht ohne Stolz in der Stimme.
Gleichwohl: „Dramatisch“ sei die Situation derzeit vor allem deswegen, „weil auch die Antibiotika-Säfte knapp sind“.
Medikamente 2022 – Ein Jahr der Verknappungen und Fehlanzeigen
Das Jahr 2022 erscheint in Sachen Medizin als eine einzige Mängelliste. Überall und immer wieder begegnete man Nachrichten über Verknappungen oder Fehlanzeigen: Krebsmedikamente, Schlaganfallmedikamente, Blutdruckarzneien, Insulin, Fiebersäfte, Antibiotika. Der Eindruck einer pharmazeutischen Versorgungsdämmerung für Deutschland entstand.
„Ein Antibiotikum muss sofort genommen werden, da muss man schnell handeln. Deshalb muss bei Lieferengpässen immer häufiger in Absprache mit dem Arzt ein anderer Wirkstoff gesucht werden“, beschreibt Röscheisen-Pfeifer den Ernst der Lage. „Nicht jedes Antibiotikum ist bei jeder Infektion einsetzbar. Bei der Wahl eines falschen Antibiotikums besteht die Gefahr von Resistenzbildung.“ Das Organisieren der Not sei für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihrer Apotheke eine „tägliche Meisterleistung am Telefon. Das frisst jeden Tag mehrere Stunden.“
Röscheisen-Pfeifer: „So etwas habe ich in 30 Berufsjahren nicht erlebt“
Protonenpumpenhemmer wie Pantoprazol gebe es derzeit auch nicht mehr, erwähnt Röscheisen-Pfeifer. Dies ist ein häufig verordnetes Mittel gegen Sodbrennen und zur Verhinderung von Magengeschwüren. Ihre Bilanz 2022: „So etwas habe ich in über 30 Jahren Berufstätigkeit noch nicht erlebt.“
Im Internet kursierten am heutigen Mittwoch (14. Dezember) zudem wieder Meldungen über einen weiteren Rückgang von Herstellern des wichtigen Brustkrebsmittels Tamoxifen. Schon im Januar dieses Jahres konnte ein Versorgungsengpass nur knapp abgewendet werden. Müssen Patientinnen und Patienten erneut bangen, dass sie ihr Medikament nicht bekommen? Röscheisen-Pfeifer sieht in ihren Beständen nach – sie hat das Mittel vorrätig, es sei auch lieferbar.
Dass es zumindest keinen Grund zur Sorge gebe, was Tamoxifen betrifft, bestätigt Anna Steinbach, Leiterin Kommunikation von Pro Generika e. V., des Interessenverbandes der Generika- und Biosimilarunternehmen in Deutschland. „Das Unglück ist in dem Sinne abgewendet, dass es – derzeit – ausreichend Tamoxifen für alle Patienten und Patientinnen gibt“, teilt sie auf Anfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) mit.
Das geplante „Generikagesetz“ ist ein positives Signal
Die Strukturen hätten sich aber nicht geändert, sagt Steinbach und verweist auf den niedrigen Festbetrag der Krankenkassen für Generikahersteller. Es sei nicht beruhigend, dass es nur noch zwei statt vormals vier Unternehmen gebe, die Tamoxifen für den deutschen Markt herstellen. „Sollte es also aus irgendwelchen Gründen wieder zu einem Engpass kommen, sind da noch weniger Hersteller, die einspringen könnten.“
Als „mögliches positives Signal“ sieht die Verbandssprecherin das vom Bundesministerium für Gesundheit geplante „Generikagesetz“. „Ob es Maßnahmen enthält, die die Situation entschärfen, beziehungsweise ob es Anreize schafft, damit sich wieder mehr Unternehmen an der Produktion beteiligen, wird sich zeigen.“
Lauterbach: „Wir haben die Ökonomie zu weit getrieben“
„Wir haben in der Arzneimittelversorgung bei Generika (…) die Ökonomie zu weit getrieben“, hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auf einer Pressekonferenz zum Thema vor zwei Wochen eingeräumt. Derzeit sei es bei der Vergabepraxis für eine Arznei bei den Krankenkassen so, „dass kleinste Unterschiede beim Einkaufspreis dazu führen, dass der Anbieter bevorzugt werden muss, selbst wenn später ein Lieferengpass befürchtet werden kann und Medikamente dann nicht erhältlich sind“, führte der Minister aus.
Lauterbach bezog sich explizit auf Tamoxifen und Blutdruckmittel, aber auch auf Fiebermittel für Kinder und Antibiotika. „Das sind Lieferengpässe, die wir nicht dulden können“, betonte der Minister. Kurzfristig solle per Gesetz sichergestellt werden, dass von Krankenkassen künftig auch die Liefersicherheit bei der Preisbildung berücksichtigt wird. Und noch vor Weihnachten sollen die Eckpunkte zum „Generikagesetz“ präsentiert werden.
Erkenntnisse über drohende Mängelsituationen sind einfacher zu erhalten
Marina Schmidt, Sprecherin des Bundesministeriums für Gesundheit, verweist auf bisherige Maßnahmen wie das „Fairer-Kassenwettbewerbsgesetz“ von vor zwei Jahren, das pharmazeutische Unternehmen und Arzneimittelgroßhandlungen dazu verpflichtet, „unter bestimmten Voraussetzungen Daten zu verfügbaren Beständen, zur Produktion und zur Absatzmenge der zuständigen Bundesoberbehörde mitzuteilen“. Der bisherige Jour Fixe zu Liefer- und Versorgungsengpässen sei in einen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingerichteten Beirat überführt worden.
Auch auf die „Voraussetzungsdetails zur Verordnung und Vergütung von individuellen Rezepturarzneimitteln, die auf ärztliche Verschreibung eines entsprechenden Fertigarzneimittels hin in Apotheken hergestellt werden können“, hätte man sich abgestimmt. Was Gabriele Röscheisen-Pfeifer und ihre Kolleginnen und Kollegen seit Sommer unentwegt tun: Fehlt der Fiebersaft, stellt die Apothekerin oder der Apotheker selbst ein Rezepturarzneimittel her.
Das BfArM nun hatte am Dienstag mitgeteilt, dass die Knappheit bei Fiebersäften für Kinder in Deutschland seiner Ansicht nach teilweise darauf zurückzuführen sei, dass sich manche Apotheken und Großhändler das Lager zu voll machen und die Arzneien andernorts fehlen. Entsprechende Schlagzeilen wie „Fiebersäfte nicht hamstern“ stoßen bei den Apotheken sauer auf.
Das Stream-Team
Die besten Serien- und Filmtipps für Netflix & Co. – jeden Monat neu.
Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.
Der Vorwurf an Apotheken, Arzneien zu horten, ist „wie eine Ohrfeige“
„Die sehen das nur als Verteilungsproblem an, was es schon lange nicht mehr ist“, sagt Röscheisen-Pfeifer, die auch Mitglied im Vorstand der Apothekerkammer Niedersachsen ist. „Das ist wie eine Ohrfeige. Wir stehen mit beiden Füßen in unserem Beruf und tagtäglich in der Apotheke und tun unser Bestes. Bevor im BfArM solche Mitteilungen herausgegeben werden, sollte man mal in die Apotheke vor Ort gehen und sich die leeren Schubladen für Antibiotika zeigen lassen.“ Es gebe Kontingentierungsvorschriften. Man könne nicht einfach von irgendeiner Arznei 100 Packungen bestellen und diese horten. Wenn 18.000 Apotheken bundesweit von Lieferengpässen sprächen, so Röscheisen-Pfeifer, könne man das in Berlin doch nicht einfach negieren.
„Unser Auftrag ist es, die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen“, so Röscheisen-Pfeifer. In der Apothekenbetriebsordnung ist verankert, dass man sich so zu bevorraten hat, dass man bei Ausfall sämtlicher Lieferketten die Patienten für eine Woche versorgen kann. Eben auch mit Fiebersäften und Antibiotika: „Aber wir haben ja nichts. Wir sind gut vernetzt, ich kann sehen, was der Großhandel auf Lager hat. Es gibt einfach nichts mehr.“
Röscheisen-Pfeifers Ausblick für das nächste Jahr ist dennoch positiv: „Ich bin optimistisch. Wir haben auf das Problem aufmerksam gemacht. Nun muss es gesundheitspolitisch gelöst werden.“