Deutsche Kommunisten an Heiligabend 1932

Wo der Weihnachtsbaum als bürgerlicher Blödsinn galt

Weihnachten 1932 – einen Monat vor der Machtübernahme der Nazis: Der kleine Günter (rechts) auf dem Schoß seines Vaters Hermann Lucks, daneben seine Mutter Louise, die Eltern waren gestandene Kommunisten und KPD-Mitglieder. Ganz links im Bild: Günters älterer Bruder Hermann, der im Juli 1943 in den Hamburger Bombennächten ums Leben kam.

Weihnachten 1932 – einen Monat vor der Machtübernahme der Nazis: Der kleine Günter (rechts) auf dem Schoß seines Vaters Hermann Lucks, daneben seine Mutter Louise, die Eltern waren gestandene Kommunisten und KPD-Mitglieder. Ganz links im Bild: Günters älterer Bruder Hermann, der im Juli 1943 in den Hamburger Bombennächten ums Leben kam.

In den dicht bebauten Straßenschluchten des Hamburger Ostens, in Hammerbrook, damals „Jammerbrook“ genannt, den schmuck- und freudlosen Hinterhöfen im südlichen Hamm, den kleinen verwinkelten Straßen in Rothenburgsort, träumten die Menschen zwischen den Kriegen von einer gerechteren Welt. Vermutlich gab es im Deutschen Reich keine vergleichbare Region, in der so viele Menschen sozialistischen Ideen anhingen.

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Das war die Welt, in der Günter Lucks aufgewachsen ist. Hier seine Erzählung über das letzte Weihnachten, bevor die Nazis die Macht übernahmen:

Meine Eltern waren Teil dieses roten Establishments, dessen Einfluss durch den gebürtigen Hamburger Ernst „Teddy“ Thälmann als Vorsitzenden der Kommunistischen Partei (KPD), der drittstärksten Partei im Reich, sogar bis in den Berliner Reichstag reichte.

Günter Lucks - Buchautor und Zeitzeuge

Günter Lucks (1928–2022) war ein deutscher Autor, in Hamburg geboren und aufgewachsen. Lucks schilderte in seinen Werken die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges. Seine Eltern waren Kommunisten – er wollte als Jugendlicher jedoch gern wie alle Gleichaltrigen die Uniform der Hitlerjugend tragen. In den schlimmen Hamburger Bombennächsten im Juli 1943, bekannt als „Operation Gomorrha“, verlor er seinen eineinhalb Jahre älteren Bruder. 16-jährig meldete er sich Anfang 1945 zum Wehrdienst, wurde von der Waffen-SS einkassiert, kämpfte in den letzten Kriegswochen als Jugendlicher in Österreich gegen die sowjetische Armee und geriet schwer verwundet in Gefangenschaft. Nach einer fünfjährigen Odyssee durch verschiedene sowjetische Gefangenenlager kam er 1950 zurück nach Hamburg, erinnerte sich seiner kommunistischen Herkunft, übersiedelte er in die DDR – kehrte mit seiner Frau jedoch tief enttäuscht zurück. Er wurde ein überzeugter Demokrat und Gewerkschafter, im Ruhestand begann er, Bücher zu schreiben.

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Trotz seiner 24 Jahre war mein Vater Hermann Lucks bereits ein gestandener Veteran der kommunistischen Bewegung: Er war Mitglied im Roten Frontkämpferbund, dem militärischen Arm der KPD, und hatte als Jugendlicher 1924 im Hamburger Aufstand mitgekämpft. Meine Mutter, die als „rotes Lieschen“ in den kommunistischen Kreisen der Hansestadt lokale Prominenz besaß, verkehrte mit KPD-Größen wie Etkar André oder eben Thälmann.

Marx hat gesagt, Religion ist Opium fürs Volk.

Hermann Lucks,

Vater des Autors

„Einen Tannenbaum will ich haben, und die Jungens wollen das auch!“, redete meine Mutter auf meinen Vater ein. Und ich, damals vier, sowie mein zwei Jahre älterer Bruder Hermann nickten eifrig dazu. Seit Wochen gab es darüber Streit zwischen meinen Eltern. Mutter gab nicht nach. „Marx hat gesagt, Religion ist Opium fürs Volk“, unternahm mein Vater einen letzten Versuch, diese sinnlose Geldverschwendung, für die er das hielt, zu verhindern. „Du brauchst mich in solchen Dingen gar nicht belehren. Aber was hat ein Tannenbaum damit zu tun? Na los, geh schon und kauf mir einen Baum. An der St.-Georg-Kirche werden welche verkauft.“

Immer in Angst, die Genossen könnten ihn sehen

Vater fluchte: „Ausgerechnet da bei den Popen!“ Und so schlich mein Vater zwei Tage vor Heiligabend im Dunkeln dann tatsächlich aus dem Haus. Immer die Angst im Nacken, einer seiner Genossen könnte ihn beim Kauf eines Weihnachtsbaumes sehen; der Spott wäre ihm sicher gewesen. Minuten später kam er mit einem stachligen Ding zurück. Glücklich sah er nicht aus, dafür waren wir es. Meine Eltern waren arbeitslos, die paar Mark für den Baum mussten wir uns sprichwörtlich vom Munde absparen.

„Demnächst singen wir noch ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘“, polterte er. Meine Mutter lachte nur und sagte: „Daran wird die Weltrevolution nicht scheitern.“ Schließlich gebe es auch andere Genossen, die Weihnachten traditionell feierten. Und sie kündigte an, gleich morgen „nach Tietz“ zu gehen, um Tannenbaumschmuck zu kaufen. „Tietz“ war der Vorgänger des heutigen Hamburger Alsterhauses, ein großes Kaufhaus, 1912 als „Warenhaus Hermann Tietz“ mit 5200 Quadratmetern Verkaufsfläche direkt am Jungfernstieg gegründet, für damalige Verhältnisse ein Verkaufstempel der Superlative.

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Für waschechte Kommunisten hatte Weihnachten keine religiöse Bedeutung, mal abgesehen von der Freude über ein paar arbeitsfreie Tage, sofern man denn Arbeit hatte. Das Weihnachtsfest galt als bürgerlicher Blödsinn. Wir Kinder sahen das ganz anders. An den schön dekorierten Schaufenstern der Kolonialwarenläden, wie sie damals hießen, drückten wir unsere Nasen platt, starrten sehnsüchtig auf Delikatessen wie Königsberger Marzipan, Dresdner Christstollen oder Adventskalender. Doch für uns gab es das alles nicht. Aus politischen Gründen, hieß es. Doch wir hatten nicht das Geld dafür.

Meine Eltern waren wie Gläubige, ohne religiös zu sein

Meine Eltern waren wie Gläubige, ohne religiös zu sein. Ihr Paradies auf Erden sahen sie in der Sowjetunion. Sie verehrten keinen Gott, dafür aber die gottgleichen kommunistischen Überväter Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin. Ihre „Enzykliken“ bekamen sie nicht vom Heiligen Vater, aber von den Vorsitzenden der maßgeblichen kommunistischen Parteien, Ernst Thälmann in Deutschland und Josef Stalin in der Sowjetunion. Der Kreml, das Machtzentrum des einzigen sozialistischen Landes der Erde, war für unsere Familie Lucks ungefähr dasselbe wie der Vatikan für die Katholiken. Und der Besuch der Umzüge und Demonstrationen am 1. Mai, dem Kampftag der internationalen Arbeiterklasse, war unsere Auferstehung, unser proletarisches Weihnachts- oder Osterfest – nie lästige Pflicht, sondern eine Sache des Herzens. Zudem war die Sowjetunion mit gutem Beispiel vorangegangen, hatte das Weihnachtsfest zugunsten des Neujahrsfestes Jolka (Tannenfest) abgeschafft.

Günter Lucks, Jahrgang 1928, starb am 7. Dezember 2022 im Alter von 94 Jahren. Er war Autor mehrerer Bücher über seine Jugend als „roter Hitlerjunge“ und als SS-Kindersoldat.

Günter Lucks, Jahrgang 1928, starb am 7. Dezember 2022 im Alter von 94 Jahren. Er war Autor mehrerer Bücher über seine Jugend als „roter Hitlerjunge“ und als SS-Kindersoldat.

Weihnachten besuchte uns Onkel Walter, der vier Jahre ältere Bruder meines Vaters. Er war kein Kommunist, sondern überzeugter Sozialdemokrat und Mitglied im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, einer von den demokratischen Parteien gegründeten Selbstschutzorganisation, in der sich vor allem Sozialdemokraten engagierten und die eine Reaktion auf die Radikalisierung am rechten und linken Rand war. Am Revers seiner Jacke trug er die Anstecknadel der Eisernen Front, drei eiserne Pfeile. Diese drei Pfeile an Onkel Walters Kragenaufschlag symbolisierten die drei wichtigsten Feinde der Demokraten, wie er uns oft erklärte: Adel, Faschisten und Kommunisten. Ärger mit seinem Bruder, meinem Vater, war also garantiert.

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Im Sowjetparadies singt man wohl jetzt auch schon ‚O du fröhliche‘?

Onkel Walter,

ein Sozialdemokrat

Kaum war er eingetreten, sah er den geschmückten Tannenbaum und konnte sich den Spott nicht verkneifen: „Halleluja, Hermann, im Sowjetparadies singt man wohl jetzt auch schon ‚O du fröhliche‘?“ Mein Vater stieg auf die Attacke umgehend ein. „Halt die Klappe. Ihr seid doch scheinheilig. Ihr sagt, ihr wollt den Sozialismus, verbeugt euch aber vor den kapitalistischen Menschenschindern. Und auf uns hetzt ihr eure Polizisten, ihr Sozialfaschisten.“

Geschenke vom „Onkel Sozialfaschist“

Das kannten wir schon. Sie beschimpften sich noch eine ganze Weile, warfen sich stereotype politische Verunglimpfungen an den Kopf. Wir Kinder verstanden das nicht und fingen an zu weinen. Schielten aber gleichzeitig auf die Geschenke, die der „Onkel Sozialfaschist“ mitgebracht und auf den Küchentisch gelegt hatte. Als die beiden mit ihren Pöbeleien gar nicht aufhören wollten, ging meine Mutter dazwischen: „Schluss, hört auf mit dem Gesabbel. Ihr könnt euch nächste Woche wieder kloppen, ihr versaut mir die ganze Stimmung. Wir wollen nur ein wenig Weihnachten feiern, ist das so schwer zu verstehen?“

Arktische Kaltfront bringt „lebensbedrohliche Kälte“ in die USA

Große Teile der USA werden zu den Feiertagen von einem schweren Wintersturm bedroht, die Temperaturen sind mancherorts bereits in den Keller gerutscht.

Das saß, die beiden Streithähne beruhigten sich. Und Onkel Walter packte endlich die Mitbringsel für uns Kinder aus. Da gab es ein kleines Pferdefuhrwerk für mich, beladen mit Kisten und Fässern. Mein Bruder bekam einen Krämerladen mit Schubladen und kleinen Flaschen, Verpackungen und Lebensmitteln aus Steingut. Dazu gab es eine große Tüte mit Süßigkeiten. Ich widmete mich sofort der Tüte, Hermann umarmte den Onkel und bedankte sich.

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… wenn die Revolution Weihnachten Pause macht

Meine Mutter stimmte mit uns ein Lied an, „O Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter“. Und wieder pöbelte mein Vater los: „Das ist doch Blödsinn, ein Tannenbaum hat keine Blätter, sondern Nadeln.“ Mutter schluchzte, dass er das Talent habe, uns alles zu vermiesen. Onkel Walter baute nun etwas umständlich seinen Fotoapparat auf einem Stativ auf. „Still sitzen!“, herrschte er uns an. Und sagte noch, wir sollten auf die Kamera schauen, da käme manchmal ein kleines Vöglein heraus.

Als das Foto „im Kasten“ war, fiel Onkel Walter auf, dass neben dieser Familie, die vor einem schön geschmückten Tannenbaum saß, ein Plakat an der Wand hing: „Arbeiter, Werktätige, wählt KPD, Liste 3“ stand da, darüber prangten Hammer und Sichel. Wir hatten vergessen, es abzuhängen. „Komm Hermann, setzt euch bitte noch mal in Position, mit diesem Sowjetquatsch an der Wand, das passt doch gar nicht.“

Doch Vater freute sich diebisch: „Ne, lass mal, das hängt da schon gut …“ Und wieder intervenierte Mutter: „Stell dich nicht so an, Hermann, wir hängen das Plakat ab – wenn die Revolution Weihnachten Pause macht, dann auch auf dem Foto.“ Das Foto besitze ich noch heute.

Günter Lucks besuchte als Autor auch Schulklassen und gestaltete Geschichtsunterricht als Zeitzeuge.

Günter Lucks besuchte als Autor auch Schulklassen und gestaltete Geschichtsunterricht als Zeitzeuge.

 

Die hier geschilderten Erinnerungen sind aus dem 2015 im Rowohlt-Verlag erschienen Buch „Der rote Hitlerjunge von Günter Lucks und Harald Stutte. Über seine Erlebnisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schrieb Lucks drei weitere Bücher, alle erreichten hohe Auflagen und wurden teilweise in Fremdsprachen übersetzt. „Ich war Hitlers letztes Aufgebot“ erschient 2010, „Hitlers vergessene Kinderarmee“ 2014 und „Zehn Tage im Juli“ über sein Überleben während der Hamburger Bombennächte 2018.

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Günter Lucks starb am 7. Dezember 2022 im Alter von 94 Jahren in Hamburg.

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