Stalinismus oder Wohlstand für alle

Putin lässt grüßen: Was ist Chinas neue Linie?

Niemand soll an dieser Fußgängerbrücke ein Plakat aufhängen: ein „Bridge watcher“ (Brückenaufpasser) in Peking.

Niemand soll an dieser Fußgängerbrücke ein Plakat aufhängen: ein „Bridge watcher“ (Brückenaufpasser) in Peking.

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In Peking schlägt jetzt die Stunde der Brücken­bewacher. Das sind Staatsdiener, die aufpassen, dass niemand an einer Brücke ein Protestplakat aufhängt, das dann womöglich minutenlang zu sehen ist: von Fußgängern, von Autofahrern, womöglich gar von ausländischen Medien­vertretern.

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Passiert ist so etwas im Herbst 2022. Da flatterte plötzlich ein Transparent, auf dem Staatschef Xi Jinping als Diktator bezeichnet wurde. Außerdem war da zu lesen: „Wir wollen Bürger sein, keine Sklaven.“ Der Vorfall verblüffte Unterdrücker und Unterdrückte gleichermaßen, wie ein Fehler in der Matrix eines Systems, das doch eigentlich weltweit führend ist bei der 24/7-Überwachung von allem und jedem.

„Wir wollen Bürger sein, keine Sklaven“: Protest auf der Siton-Brücke in Peking im Oktober 2022.

„Wir wollen Bürger sein, keine Sklaven“: Protest auf der Siton-Brücke in Peking im Oktober 2022.

Vergleichbares soll sich nicht wiederholen, schon gar nicht jetzt, in den Tagen des Volkskongresses, dessen 3000 Abgeordnete zusammengekommen sind zur alljährlichen orwellianischen Demokratie­simulation.

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Man möchte schmunzeln über Pekings Mix aus Pomp und Paranoia. Doch dazu ist die Lage zu ernst. Leider gibt es beklemmende Parallelen zwischen Xi und dem russischen Staatschef Wladimir Putin. Auch Xi akzeptiert keine Amtszeit­begrenzung; als erster chinesischer Präsident seit Mao schwingt er sich jetzt auf, länger als zehn Jahre im Amt zu bleiben. Auch Xi steckt, wie Putin, nie da gewesene Summen in die Rüstung seines Landes. Seit vielen Jahren liegen die jährlichen Zuwächse im Militäretat über denen des Brutto­inlands­produkts.

Hinzu kommt eine auch in psychologischer Hinsicht problematische Parallele: Auch Xi ist ein Machthaber, dem schon seit einer ungesund langen Zeit niemand mehr widerspricht.

Will Xi „der große Lehrer aller Völker“ werden?

Der letzte einflussreiche Mann aus der Ära vor Xi war Ministerpräsident Li Keqiang. Er wurde jetzt, im Beisein des Volkskongresses, in den Ruhestand versetzt. Von nun an ist Xi nur noch umgeben von Leuten, die allein ihm ihren Aufstieg verdanken. Diese völlige Abwesenheit innerer Gegengewichte macht Xis China gefährlich.

Was wird Xi mit seiner Machtfülle anfangen? Schon seit Langem lässt er sich offiziell als „Überragender Führer des Landes“ bezeichnen. Ist ihm das mittlerweile zu wenig? Will er, wie Mao Tse-Tung, „der große Steuermann der Weltrevolution“ genannt werden, „der große Lehrer aller Völker“?

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Xi sollte darauf achten, nicht seinerseits Fehler zu machen. Die Ausrufung einer Allianz mit Putin Anfang Februar 2022, drei Wochen vor Russlands Einmarsch in die Ukraine, entpuppt sich inzwischen als ein weltpolitisches Eigentor. Entsetzt schoben seither pazifische Staaten wie Japan, Südkorea und Australien enorme Summen in ihre Verteidigungs­etats. Die Philippinen, schon mal offener für China, bieten den USA jetzt vier neue Militärbasen an.

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China ruft zum Waffen­stillstand in der Ukraine auf. In einem Positions­papier fordert Peking außerdem, dass Verhandlungen sofort wieder­aufgenommen werden.

Auch in der EU wächst ein neuer Widerwille gegenüber dem früher eher sympathischen Reich der Mitte. Will China allen Ernstes mit Waffen einen völkerrechts­widrigen Angriffskrieg in Europa unterstützen? Schon die Aussicht darauf verändert die Stimmung auf den Märkten – und könnte Chinas Wirtschaft auf Jahre hinaus Milliarden kosten, ganz ohne förmliche Sanktions­beschlüsse des Westens. Zugleich nimmt rund um das Thema Resilienz das Misstrauen zu. Xi predigt intern eine wachsende strategische Unabhängigkeit Chinas von Importen, will aber weltweit seinerseits als Exporteur im Geschäft bleiben: Diese Doppel­bödigkeit ist inzwischen weltweit aufgefallen.

Das chinesische Wirtschaftswunder unter Jiang Zemin (1993 bis 2003) und Hu Jintao (2003 bis 2013) hatte mit einer Öffnung nach Westen zu tun, mit Liberalisierungen. Diesen historischen Grundtatbestand will Xi mit Gewalt verdrängen. Tatsächlich aber wird China sich entscheiden müssen. Das Land kann nicht beides haben: Stalinismus und Wohlstand für alle.


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