Deutschland und Frankreich – Beziehungsstatus: Es ist kompliziert
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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, links) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (Archivbild).
© Quelle: Christophe Ena/AP/dpa
Liebe Leserin, lieber Leser,
die Liste der Streitpunkte zwischen Deutschland und Frankreich ist aktuell etwa genauso lang wie die Geschichte der Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg. 60 Jahre Élysée-Vertrag sollen an diesem Sonntag in Paris feierlich begangen werden. Aus Deutschland wird sich am frühen Sonntagmorgen eine große Delegation aus Berlin aufmachen. An diesem einen Tag soll das im Herbst abgesagte Treffen der Kabinette nachgeholt werden. Zudem werden rund 100 Bundestagsabgeordnete nach Paris reisen, um sich dort mit ihren französischen Kolleginnen und Kollegen zu treffen.
Man darf gespannt sein, ob die vielen hässlichen Unstimmigkeiten, die in den vergangenen Monaten das deutsch-französische Verhältnis geprägt haben, an diesem Tag hinter den wehenden Nationalflaggen und den klingenden Hymnen zurücktreten werden. Es ist in jedem Fall höchste Zeit für einen Neustart der bilateralen Beziehungen, wie ihn der frühere französische Außenminister Dominique de Villepin schon im Herbst forderte. „Wir können uns in diesem Moment der Geschichte ein nicht geeintes und nicht starkes Europa gar nicht leisten“, erklärte er. In seinen Worten schwang mahnend mit, was seit Jahrzehnten eine Binsenweisheit in der EU ist. Ohne deutsch-französische Einigkeit kann Europa nicht zusammenhalten. Mehr noch: Je schlechter es Europa geht, desto enger müssen Frankreich und Deutschland zusammenstehen.
Bundeskanzler Scholz und Frankreichs Präsident Macron muss man das natürlich nicht erklären. Ihr bisheriger gegenseitiger Umgang miteinander widersprach dieser einfachen Erkenntnis aber. Die einzige offensichtliche Gemeinsamkeit: Beide waren stets darum bemüht, zumindest rhetorisch viel weiße Salbe auf die wunden Stellen im Verhältnis der Nationen zu schmieren.
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60 Jahre Élysée-Vertrag: Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle (rechts) und der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichneten am 22.1.1963 im Pariser Élysée-Palast den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag.
© Quelle: UPI/A0001_UPI/dpa
Derweil ärgerten sich Scholz und Macron wechselseitig mit Desinteresse und Arroganz. So versäumte es die Regierung in Berlin, die französische Seite frühzeitig über den 200 Milliarden Euro schweren Doppelwumms zu informieren, was mindestens eine Verletzung der guten Etikette war. Dafür revanchierte sich Macron Anfang des Jahres. Als sich die westlichen Partner einig waren, dass nun doch Kampfpanzer an die Ukraine geliefert werden sollen, preschte Macron mit der Information an die Öffentlichkeit vor und ließ den deutschen Kanzler einmal mehr als Getriebenen dastehen. Auch die deutsche Initiative, mit Israel eine europäische Luftabwehr zu schaffen, sorgte für maximale Verärgerung im Élysée-Palast – sind die Franzosen doch mit Italien im Geschäft in Sachen Schutzschirm. Fingerhakeln zwischen Frankreich und Deutschland gab es auch beim Thema Gas: Die Deutschen blockierten in Brüssel einen Gaspreisdeckel, woraufhin Macron zunächst seine Zustimmung zu einer neuen Gaspipeline von Portugal über Spanien und Frankreich in die Mitte Europas verweigerte. Dass Scholz ohne Absprache nach China reiste, stieß in Paris zudem auf große Irritation – zumal der Krieg gegen die Ukraine Europa einmal mehr vor Augen geführt hat, wie sehr Europa sich gegenüber den Diktaturen und Autokratien der Welt wappnen muss.
„Paar“ und „Motor“ der EU
In den 60 Jahren seit Abschluss des Élysée-Vertrags hat es auch immer wieder schwierige Phasen im deutsch-französischen Verhältnis gegeben. Schon die Wortwahl, mit der das Verhältnis jeweils beschrieben wird, zeigt die Unterschiede. Die Franzosen beschreiben Frankreich und Deutschland als „Paar“, hierzulande hat sich der Begriff des deutsch-französischen Motors etabliert. Dort also die eher emotional geprägte Wortwahl, hier die technisch geprägte Beschreibung einer Beziehung.
Aktuell ist aber leider immer wieder von einem historischen Tiefpunkt der Beziehungen die Rede. Die Analyse, warum das so ist, ist denkbar einfach: Der Fisch stinkt vom Kopf. Der Draht von Kanzler Scholz scheint über den Atlantik zu US-Präsident Biden kürzer zu sein als nach Paris. Während sich Deutschland im Krieg gegen die Ukraine den USA stark zugewendet hat, sieht Frankreich die Verteidigung Europas vielmehr als europäische Aufgabe.
Scholz und Macron treffen sich zum Krisentreffen in Paris
Überschattet von Meinungsverschiedenheiten bei wichtigen Themen hat sich Bundeskanzler Scholz mit dem französischen Präsidenten Macron in Paris getroffen.
© Quelle: Reuters
Diese Fragen und Differenzen rund um den Krieg gegen die Ukraine sollen am Sonntag ebenfalls Thema in Paris sein. Nach der gemeinsamen Kabinettssitzung wird auch noch der Deutsch-Französische Verteidigungs- und Sicherheitsrat zusammentreten, bevor Scholz und Macron am späten Nachmittag gemeinsam eine Pressekonferenz geben. Auch das ist angesichts der desolaten Beziehungen eine Erwähnung wert. Nach dem letzten Treffen in Paris ließen die Franzosen die Pressebegegnung ausfallen, obwohl die deutsche Seite fest mit einem gemeinsamen Auftritt gerechnet hatte.
Ich werde mir übrigens am Sonntag aus der Nähe anschauen, ob durch den Festakt und die vielen Treffen von Parlamentariern und Regierungskräften das deutsch-französische Verhältnis wieder enger wird und für RND.de berichten.
Bittere Wahrheit
Ich will die Bundeswehr stark machen. Die Aufgaben, die vor der Truppe liegen, sind gewaltig.
Boris Pistorius
Verteidigungsminister
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Boris Pistorius (SPD), neuer Bundesverteidigungsminister.
© Quelle: Julian Stratenschulte/dpa
Der SPD-Politiker Pistorius muss als neuer Verteidigungsminister ins kalte Wasser springen: Treffen mit den Nato-Partnern in Ramstein wegen des Kriegs in der Ukraine noch in dieser Woche, Marder beschaffen, die Bundeswehr reformieren und sein neues Ministerium gleich mit. Der 62-Jährige gilt als hemdsärmelig und zupackend. Ob das ausreicht, eben das zu tun, was er ankündigt – die Bundeswehr stark machen – ist fraglich. Dass die Aufgaben gewaltig sind, wussten auch schon seine Vorgängerinnen im Amt. Bei den Militärs ist zu hören, dass es gut wäre, wenn Probleme nicht nur beschrieben, sondern endlich mal angegangen würden.
Wie Demoskopen auf die Lage schauen
Für die Grünen war die Räumung des Braunkohledorfs Lützerath ein Stresstest. Mussten sie doch den geplanten Abriss des Dorfs mit Polizeigewalt ihrer schwarz-grünen Landesregierung in NRW durchsetzen, gegen den sie selbst als Oppositionspartei noch protestiert hatten. Die Wählerinnen und Wähler der Grünen scheinen es ihrer Partei aber nicht übel zu nehmen. Ohne Verlust stehen sie in der aktuellen Forsa-Umfrage weiter bei 20 Prozent vor den Sozialdemokraten. Einen Großteil der Bevölkerung haben die Proteste nicht sehr interessiert. Forsa zufolge erachteten nur 12 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sowie 13 Prozent der Grünen-Wählerinnen und -Wähler die Proteste in Lützerath für ein wichtiges Thema.
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© Quelle: Forsa
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