Warum gibt es E-Voting in Estland – und in Deutschland nicht?
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E-Voting, wie zuletzt in Estland erfolgreich praktiziert, ist nicht unumstritten.
© Quelle: picture alliance / Zoonar
Berlin. Ob er besseres vorhatte, als sich zum traditionellen Fototermin beim Einwurf eines Zettels in die Wahlurne einzufinden? Man weiß es nicht genau. Sicher ist, Estlands Präsident Alar Karis hat sein Votum für die Parlamentswahl am vergangenen Sonntag vorab digital übermittelt – so wie mehr als ein Drittel aller Wahlberechtigten seines Lands. Insgesamt wurde über die Hälfte aller Stimmen digital abgegeben – ein Rekord.
Estland war das erste Land, das die Stimmabgabe per Internet bei politischen Wahlen zuließ. Das war 2005 bei Kommunalwahlen. 2 Prozent machten damals ihr Kreuz digital. In diesem Jahr nutzten das Verfahren bei den aktuellen Parlamentswahlen mehr als 313.000 der gut 965.000 Wahlberechtigten, rund 65.000 Menschen mehr als 2019.
International ist das Verfahren wegen Zweifeln an der Funktionssicherheit umstritten. Auch in Deutschland ist daran derzeit nicht zu denken. Zwar haben sich – nicht zuletzt beschleunigt durch die Bedingungen der Corona-Pandemie – in den vergangenen Jahren vor allem Vereine, Verbände sowie zahlreiche Körperschaften des öffentlichen Rechts für digitale Abstimmungen entschieden. Parlamentarische Wahlen mit der Möglichkeit, digital zu voten, sind aber nicht in Sicht.
E-Voting: Estland wählt seit 2005 digital
2005, als Estland erstmals die digitale Stimmenabgabe erfolgreich auf kommunaler Ebene testete, kamen auch bei der Bundestagswahl zum ersten Mal Wahlcomputer zum Einsatz, die eine elektronische Stimmabgabe ermöglichten. Das Bundesverfassungsgericht urteilte jedoch 2009, dass durch den Einsatz der Geräte das Öffentlichkeitsprinzip der Wahl nicht eingehalten werde. Die Stimmabgabe und die Auszählung, so die Richter und Richterinnen damals, müssen auch bei einer digitalen Parlamentswahl für alle ohne spezielle Kenntnisse nachvollziehbar sein.
Ein Verbot digitaler Wahlen ist das nicht. Dem E-Voting werden aber sicherheitstechnisch hohe Hürden gesetzt. Die Esten und Estinnen, ein Land mit nur 1,3 Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen, haben das so gelöst: Sie benötigen für das digitale Abstimmen einen Computer, eine ID-Karte und ein spezielles Kartenlesegerät.
Die Abstimmung selbst ist in wenigen Minuten erledigt. Nach dem Download der App von der Webseite der Wahlbehörde identifiziert sich der Wähler per PIN-Code, stimmt ab und verifiziert die Wahl mit seiner digitalen Unterschrift . Das ist alles. Zur Identifizierung kann auch ein Mobiltelefon mit spezieller SIM-Karte genutzt werden.
Digitale Demokratie nötig
Der Direktor des Berlin Instituts für Partizipation (Bipar), Jörg Sommer, hält Ängste vor digitalen Wahlmanipulationen für nachvollziehbar. „Für digitale Wahlen ist nicht die Technologie entscheidend, die ist sicher hinzubekommen. Entscheidend ist die Akzeptanz von E-Voting. Angesichts des zerbröselnden Vertrauens in staatliche Stellen und Wahlprozesse, man denke nur an die nötige Wiederholungswahl in Berlin, würden digitale Parlamentswahlen derzeit wahrscheinlich Verschwörungsmythen befeuern.“
Im Grundsatz werde man jedoch auch in Deutschland „nicht umhin kommen“, Demokratie auch digital zu praktizieren, sagt Sommer. „Derzeit gibt es jedoch keine ernsthaften Bemühungen und Kompetenzen der politischen Elite, die nötigen Prozesse anzuschieben. Dabei finden schon heute der Wahlkampf und die politische Meinungsbildung in großen Teilen im Digitalen statt.“
Dabei finden schon heute der Wahlkampf und die politische Meinungsbildung in großen Teilen im Digitalen statt.
Jörg Sommer
Direktor des Berlin Instituts für Partizipation
Tatsächlich kam der Bundestagsausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung 2022 nach Expertenanhörungen zum Ergebnis, dass es in naher Zukunft kein E-Voting in Deutschland geben werde. Das liegt auch daran, dass der vor mehr als zwölf Jahren eingeführte Digitalpersonalausweis mit seiner eID-Funktion (elektronische Identität) zu wenig genutzt wird, wie ebenfalls im vergangenen Jahr der Bundestagsausschuss für Digitales feststellte. Experten und Expertinnen nennen Gründe: Zu kompliziert, zu teuer, zu wenige Anwendungsmöglichkeiten.
Vertrauen in E-Voting durch Anwendung
Neben Estland besitzen in Europa nur wenige Staaten Erfahrungen mit digitalen Abstimmungen. Frankreich etwa gibt seit 2012 im Ausland lebende Französinnen und Franzosen die Möglichkeit, online an den Parlamentswahlen teilzunehmen. Die Schweiz setzt schon länger E-Votings bei Volksentscheiden ein.
Technologisch sind digitale Wahlen kein Zauberwerk, sagt Jan Wegner, Geschäftsführer der Berliner Firma Polyas. Das Unternehmen setzt nach seinen Worten jährlich tausende digitale Abstimmungen auf Privat-, Vereins- oder Verbandsebene technisch um. „Dabei halten wir die im Grundgesetz für Wahlen der Abgeordneten zum Deutschen Bundestag festgelegten Wahlrechtsgrundsätze ein, wonach die in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl abgehalten werden müssen. Wir gewährleisten auch die einfache und öffentliche Überprüfbarkeit.“
Für die individuelle Verifizierbarkeit der Stimmen werde dabei mit Kryptografie und mathematischen Beweisen gearbeitet, so Wegner. „Die technischen Herausforderungen sind gelöst. Transparenz und Vertrauen in die Prozesse lassen sich jedoch nur durch Anwendung erzeugen.“ Da wäre in Deutschland „deutlich mehr“ möglich, sagt er. Von Normalität im Umgang mit digitalen Möglichkeiten sei man hierzulande noch „sehr weit“ entfernt.
Bundessozialwahl auch digital
Immerhin: Bei der in diesem Jahr über die Bühne gehenden Bundessozialwahl, gemessen an den Wahlberechtigen nach Bundestags- und EU-Wahl die drittgrößte Wahl Deutschlands, wird auch die Onlinestimmabgabe möglich sein. Nur so könnten Erfahrungen seitens der Wähler und Wählerinnen gesammelt werden, so Polyas-Chef-Wegner, der nächste Schritte bei der Betriebsratswahl 2026 fordert.
Bipar-Direktor Sommer stimmt dem zu. „Die digitale Wahl wird kommen – aber niemand kann derzeit sagen, wann.“ Er hält wie Wegner eine Option für Briefwähler und Briefwählerinnen, auch digital abstimmen zu können, für die nächstliegende Chance, Erfahrungen mit dem E-Voting zu sammeln.
Und wie hat es nun der estnische Präsident Alar Karis gemacht? Er hat letzte Woche online in einer Dorfbibliothek der Gemeinde Põlva gewählt. „Jeder kann frei entscheiden, wie er bei den Wahlen abstimmen möchte. Ich vertraue dem E-Staat und dem E-Voting genauso wie allen anderen E-Services, von der Bank bis zum Finanzamt“, sagte er danach. Und: „Mein Appell ist einfach: Gehen Sie wählen!“