Kommentar

Digitale Patientenakte: Bei der Datennutzung geht Lauterbach zu weit

Karl Lauterbach bei der Bundespressekonferenz zum Thema Digitalisierungsstrategie für Gesundheit und Pflege.

Karl Lauterbach bei der Bundespressekonferenz zum Thema Digitalisierungsstrategie für Gesundheit und Pflege.

Es war ein Skandal, der im Sommer 2001 die Schlagzeilen beherrscht: Damals musste der Pharmakonzern Bayer seinen Cholesterinsenker Lipobay vom Markt nehmen, weil Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten zum Tod von Dutzenden Menschen geführt hatten. Daraufhin kündigte die damalige Gesundheits­ministerin Ulla Schmidt (SPD) die Einführung eines „elektronischen Medikamentenpasses“ an, um derartige Vorfälle künftig zu verhindern. Das gilt als Geburtsstunde der elektronischen Gesundheitskarte. Geplant war, dort auch Befunde, Rezepte oder Notfalldaten abzuspeichern.

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Heute, fast 22 Jahre, mehrere Gesundheits­minister und Ausgaben in Milliardenhöhe später, muss die geplante Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens als gescheitert bezeichnet werden. Krankenkassen, Ärzte, Kliniken und Apotheken haben sich immer wieder gegenseitig blockiert, die viel beschworene Selbstverwaltung im Gesundheitswesen hat gründlich versagt. Und die Politik hat dem Trauerspiel jahrelang nur zugeschaut, immer mal wieder warnend den Zeigefinger erhoben, aber nicht wirklich durchgegriffen. Das Projekt ist bis heute eine einzige Blamage.

Die Versicherten müssen sich allerdings auch an die eigene Nase fassen, das gilt zumindest seit 2021. Seitdem müssen die Krankenkassen eine elektronische Patientenakte anbieten – und Ärzte müssen sie auf Anforderung der Versicherten auch mit Daten befüllen. Technisch funktioniert das alles. Dennoch nutzen bisher weniger als ein Prozent der Versicherten die Akte. Damit fehlte auch der Druck auf alle Beteiligten, die Zahl der digitalen Anwendungen schnell zu erhöhen und das im deutschen Gesundheitswesen immer noch sehr beliebte Fax endlich einzumotten.

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Nun verkündet ausgerechnet der Mann, der die vergangenen 20 Jahren das deutsche Gesundheitssystem maßgeblich mitgeprägt hat, einen Neustart. Zweifel an der Durchsetzungs­kraft Lauterbachs sind durchaus berechtigt, doch die bereits im Koalitionsvertrag der Ampelparteien vereinbarte und nun vom Minister per Gesetz vorangetriebene Opt-out-Regelung wäre tatsächlich ein Quantensprung.

Digitalisierung ist im Interesse der Patienten

Das zeigen Frankreich und Österreich, wo nur wenige Versicherte einer obligatorischen Einrichtung der elektronischen Patientenakte widersprochen haben und die Digitalisierung dadurch weit vorangekommen ist. Umfragen zufolge unterstützt auch hierzulande eine Mehrheit eine derartige Widerspruchslösung. Es kann allen Versicherten auch nur dringend geraten werden, die Patientenakte zu akzeptieren und dann auch intensiv zu nutzen – im eigenen Interesse. Wer schon einmal in der misslichen Lage war, nach einem Umzug Befunde besorgen zu müssen, weiß, wie vorteilhaft eine digitale Akte wäre.

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Die offene Flanke ist allerdings der Datenschutz. Lauterbach will ermöglichen, dass die in der elektronischen Patientenakte gesammelten Daten automatisch in pseudonymisierter Form für die Forschung genutzt werden können – außer es wird aktiv widersprochen. Zwar teilen viele Bürgerinnen und Bürger heute bereitwillig Gesundheits­informationen, wenn sie ihre Fitnesstracker nutzen, die fleißig Daten an Google und Co. senden. Doch bei medizinischen Befunden oder Labordaten dürfte die Hemmschwelle zur Freigabe der Informationen deutlich höher liegen, selbst wenn eine Pseudonymisierung versprochen wird.

Will Lauterbach erreichen, dass die digitale Patientenakte endlich ein Erfolg wird, darf die Nutzung der Gesundheitsdaten zur Forschung nur erlaubt werden, wenn das von den Versicherten ausdrücklich bejaht wird. Das ist für die Akzeptanz der digitalen Akte enorm wichtig. Gerade beim Umgang mit sensiblen Daten darf Schweigen nicht als Zustimmung gewertet werden.

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