Erdogans Zeitenwende
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Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan besucht Opfer der Erdbeben in der Türkei.
© Quelle: IMAGO/APAimages
Die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien nimmt apokalyptische Ausmaße an. Über 35.000 Tote wurden bis zum Sonntag geborgen. Der angesehene türkische Seismologe Övgün Ahmet Ercan erwartet, dass noch 184.000 Menschen unter den Trümmern begraben liegen. 13 Millionen Menschen sind allein in der Türkei betroffen, fast noch einmal so viele in Syrien. Jedes Land wäre mit einem Desaster dieses Ausmaßes überfordert.
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Aber in diesem Fall zeigen sich spezifisch türkische Probleme. Im Präsidialsystem, das Erdogan 2018 einführte, laufen alle Fäden beim Staatschef zusammen. Doch der unterschätzte wohl anfangs das Ausmaß der Katastrophe oder wurde falsch informiert. Der Seismologe Ercan kritisiert, die Regierung habe, statt sofort die Armee zu mobilisieren, einen vollen Tag verloren.
Wird die Justiz auch der Korruptionsfrage nachgehen?
Auch die massiven Schäden geben zu denken. Ganze Wohnblocks stürzten ein wie Kartenhäuser. Die Justiz hat 113 Haftbefehle wegen Pfusch am Bau erlassen, zwölf Bauunternehmer wurden bereits festgenommen. Auf Weisung des Justizministeriums richten die Staatsanwaltschaften jetzt Abteilungen für die Verfolgung von „Erbebenverbrechen“ ein.
Aber werden sie auch der Frage nachgehen, warum die Bauaufsicht versagte, ob Korruption im Spiel war und welche Rolle die Nähe vieler großer Bauunternehmer zu Erdogan bei der Vergabe sozialer Wohnungsbauprojekte spielte?
Für Staatschef Recep Tayyip Erdogan bedeutet das Beben eine Zeitenwende. Seit Jahren kultivierte er das Bild eines stolzen, starken Landes, das keine Freunde braucht. Er selbst stilisierte sich als Führer, der die Mächtigen der Welt nach seiner Pfeife tanzen lässt. Erdogan unterläuft die Sanktionen des Westens gegen Russland, blockiert die Norderweiterung der Nato und droht dem Nachbarn Griechenland mit Raketenangriffen auf die Viermillionenstadt Athen.
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Das „Wunder“ von Kirikhan – ein Lichtblick in der Verzweiflung?
Die Erleichterung war groß. In einer dramatischen Bergungsaktion hatten deutsche Helfer am Freitag eine Frau in der Südosttürkei aus den Trümmern befreit – nach mehr als 104 Stunden. Ein Helfer sprach von einem „Wunder“. Am Samstag die traurige Nachricht: Die Frau mit dem Namen Zeynep hat die Nacht im Krankenhaus nicht überlebt.
Welche Schlüsse zieht Erdogan?
Jetzt muss der türkische Staatschef erkennen, dass sein Land Hilfe braucht. Und die Hilfsbereitschaft ist überwältigend: Über 10.000 Retter aus mehr als 80 Ländern sind im Einsatz. Als eines der ersten Länder schickte der „Erbfeind“ Griechenland wenige Stunden nach dem Beben Rettungskräfte und fünf Flugzeuge mit Hilfsgütern in die Südosttürkei.
Die griechische Regierung bemüht sich jetzt, die Gesprächskontakte mit Ankara neu zu knüpfen. Außenminister Nikos Dendias flog am Sonntag ins Katastrophengebiet. Auch in der griechischen Bevölkerung keimt die Hoffnung auf eine Annäherung der beiden verfeindeten Nachbarländer.
Welche Schlussfolgerungen zieht Erdogan? Jahrelang hat er seine Kritiker mit Hassreden überzogen und die Gräben zum Westen vertieft. Das Ergebnis ist eine gespaltene Gesellschaft und ein außenpolitisch isoliertes Land. Geht Erdogan nun auf die Opposition, die Nachbarn und die Nato-Partner zu? Er hätte die Chance. Aber leider gibt es dafür bisher keine Anzeichen.
Der Staatschef zeigt alte Reflexe
In drei Monaten muss sich Erdogan dem Urteil der Wählerinnen und Wähler stellen. Für Wahlgeschenke wird diesmal wohl das Geld fehlen, jede Lira wird für die Katastrophenhilfe und den Wiederaufbau gebraucht. Das Desaster wird die Krise der ohnehin schwer angeschlagenen Wirtschaft weiter vertiefen. Jetzt geht es vorrangig darum, Hunderttausende Obdachlose mit Trinkwasser, Essen, Medikamenten und einer geheizten Unterkunft zu versorgen. Davon hängt das Überleben der Menschen ab – und Erdogans politische Zukunft.
Aber der Staatschef zeigt die alten Reflexe. Um Zweifel am Krisenmanagement zu unterbinden, ließ die Regierung des Netzwerk Twitter sperren. Damit nahm sie den Überlebenden und den Rettern einen lebenswichtigen Kommunikationskanal. Erdogan spricht von einer „Schmutzkampagne“ und droht Kritikern mit Strafen.
Dutzende Menschen, die in den sozialen Netzwerken auf Missstände aufmerksam machten, wurden bereits festgenommen. Nur mit Repressionen glaubt Erdogan offenbar die Wahlen Mitte Mai bestehen zu können. Ob seine Rechnung aufgeht, wird sich zeigen. Das politische Erdbeben könnte dem Staatschef noch bevorstehen.