Mitten im Erdbebengebiet: Wie eine türkische Stadt die Katastrophe fast unbeschadet überstand
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Tausende Menschen kamen bei dem schweren Erdbeben in der Türkei und in Syrien ums Leben, in einer kleinen Stadt aber blieben fast alle unbeschadet (Symbolbild).
© Quelle: IMAGO/ZUMA Wire
Es gibt noch Wunder in der südosttürkischen Erdbebenregion, aber sie werden immer seltener: Am Donnerstag befreiten Retter in der Stadt Kahramanmaras die 17-jährige Aleyna Ölmez nach 248 Stunden lebend aus den Trümmern. Kahramanmaras gehört zu den am schlimmsten getroffenen Städten. In zehn Städten der Region richtete das Doppelbeben vom 6. Februar schwerste Schäden an. Mehr als 35.000 Tote wurden bisher in der Südosttürkei geborgen, meldete die Katastrophenschutzbehörde.
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Aber ein Ort wirkt wie eine Oase inmitten der Zerstörung, die 42.000 Einwohner zählende Stadt Erzin. Kein Gebäude stürzte hier ein, niemand kam ums Leben, es gab keinen einzigen Verletzten. Dabei war das Epizentrum eines der beiden Beben nur 100 Kilometer entfernt. Doch während in den benachbarten Städten Tausende Gebäude einstürzten, gab es in Erzin nur geringe Schäden. Viele Einwohner sprechen von einem Wunder.
Erzins Bürgermeister: „Ich habe kein illegales Bauen zugelassen“
Es gibt rationale Erklärungen für das vermeintliche Mysterium, wie den stabilen Untergrund der Gegend und die niedrige Bebauung. Ein weiterer Grund heißt Ökkes Elmasoglu. Er ist seit vier Jahren Bürgermeister von Erzin. Elmasoglu weiß, warum das Beben seiner Stadt fast nichts anhaben konnte: „Ich habe kein illegales Bauen zugelassen“, sagte der 44-jährige Kommunalpolitiker im türkischen Fernsehen. Viele hätte ihn deshalb angefeindet und spöttisch gefragt, ob er der einzige Anständige im Land sein wolle, berichtete der Bürgermeister.
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Syrischer Geflüchteter über Bilder aus Erdbebengebiet: „Die Machtlosigkeit tut weh“
Apokalyptisch sind die Bilder aus dem Erdbebengebiet in der Türkei und Syrien. Besonders betroffen machen sie die, die dort ihre ursprüngliche Heimat haben. So wie Rani Al Ali. Der Syrer lebt seit mehreren Jahren in Deutschland und versucht, Kontakt ins Katastrophengebiet zu halten.
Schon drei Monate, nachdem der Jurist im März 2019 als Kandidat der Oppositionspartei CHP zum Bürgermeister gewählt wurde, seien Verwandte zu ihm gekommen und hätten ihn bedrängt, einen Schwarzbau zu legalisieren, erzählte Elmasoglu. Aber er habe gesagt: „Tut mir leid, da kann ich nichts machen.“ Mit seiner standhaften Haltung hat sich der Bürgermeister in Erzin nicht nur Freunde gemacht. Heute gilt er vielen in der Türkei als Held. Er selbst gibt sich bescheiden. „Ich habe ein reines Gewissen“, sagt Elmasoglu.
Pfusch am Bau ist in der Türkei häufig Thema – vor allem nach Erdbeben
Illegales Bauen ist nach jeder Erdbebenkatastrophe in der Türkei ein Thema. Immer wieder ignorieren profitsüchtige Bauunternehmer Vorschriften, sparen beim Baustahl, verwenden minderwertigen Beton oder bauen mehr Geschosse als zulässig. Aber noch nie waren die verheerenden Folgen so sichtbar wie jetzt. Staatschef Recep Tayyip Erdogan kommt in Erklärungsnot. Denn um Stimmen zu fangen, erließ seine Regierung im Wahljahr 2018 eine Amnestie, mit der über 400.000 Schwarzbauten gegen Zahlung einer geringen Strafgebühr legalisiert wurden.
Zahl der Toten nach Erdbeben in der Türkei und Syrien steigt auf über 40.000
Es gibt auch gute Nachrichten. Mehr als eine Woche nach der Katastrophe werden noch Überlebende in den Trümmern gefunden.
© Quelle: Reuters
Allein in Istanbul seien so 317.000 illegal errichtete Gebäude nachträglich genehmigt worden, sagte am Mittwoch Ekrem Imamoglu, der CHP-Oberbürgermeister der Bosporus-Metropole. „Ich wollte, ich könnte meinen Mitbürgern sagen: Schlaft friedlich in euren Wohnungen“, sagte Imamoglu, „aber das kann ich nicht.“ Er schätzt, dass bei einem schweren Beben, wie es Seismologen für Istanbul erwarten, 90.000 Gebäude einsturzgefährdet sind.
Während Hilfsorganisationen im südostanatolischen Katastrophengebiet Zeltstädte für 1,5 Millionen Obdachlose errichten, warnt der Geologieprofessor Taylan Sancar vor der Gefahr eines weiteren schweren Bebens in der Region. Was den Wissenschaftler beunruhigt, sind mehrere heftige Nachbeben diese Woche an der Malatya-Bruchzone bei Hekimhan, am nördlichen Rand des aktuellen Katastrophengebiets. Das letzte große Beben an dieser Bruchzone liegt laut Professor Sancar rund 2600 Jahre zurück. Die jüngsten Erschütterungen zeigten, dass die Bruchzone aktiv ist, sagt der Geologe. Er erwartet ein Erdbeben der Stärke 7,4 bis 7,5. Betroffen wäre auch die 650.000-Einwohner-Stadt Malatya.