SPD-Politiker treffen auch Selenskyj

Mützenich und Klingbeil in der Ukraine: Lehrstunde in Kiew

SPD-Politiker Lars Klingbeil (l.) und Rolf Mützenich (M.) mit Wladimir Klitschko in Kiew.

SPD-Politiker Lars Klingbeil (l.) und Rolf Mützenich (M.) mit Wladimir Klitschko in Kiew.

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Kiew. Ex-Boxweltmeister Wladimir Klitschko führt die beiden Besucher aus Deutschland dorthin, wo es wehtut. Tief im Herzen. Er zeigt ihnen auf dem geschichtsträchtigen Maidan-Platz in Kiew die Fotos der Männer und Frauen, einige von ihnen noch blutjung, die hier 2014 ihr Leben ließen für die Demokratie. So wie jetzt Zehntausende Landsleute im russischen Angriffskrieg den Tod finden, weil sie die Freiheit verteidigen, die eigene und womöglich auch die Europas.

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Eine Kämpfernation, die dafür aber noch viel mehr Waffen brauche, sonst würde der größen­wahnsinnige Kremlchef Wladimir Putin weiter nach Westen vordringen und der Tod vieler Ukrainer völlig sinnlos gewesen sein – das ist die Botschaft, die die SPD‑Spitzenpolitiker Lars Klingbeil und Rolf Mützenich am Montag in Kiew von ihren Gesprächspartnern zu hören bekommen. Wenn man die Bilder der Jungen sieht, die auf dem Maidan starben, drängt sich einem aber unweigerlich ganz grundsätzlich eine Sinnfrage auf: Warum? Warum geht es nicht in Frieden?

Waldimir Klitschko und Rolf Mützenich an einem Denkmal.

Waldimir Klitschko und Rolf Mützenich an einem Denkmal.

Die Ukraine zählt auf Deutschland

„Deutschland und Europa werden keine sicheren Orte zum Leben sein, wenn die Ukraine nicht gewinnt“, mahnt Außenminister Dmytro Kuleba. Er verhaspelt sich in der gemeinsamen Pressekonferenz, nennt die Sozialdemokraten versehentlich Christdemokraten und ent­schuldigt sich sofort. Der Grund für seine Irritation: Er habe gerade ein Video gesehen, auf dem gezeigt werde, wie ein ukrainischer Kriegsgefangener von Russen hingerichtet werde. Grausame Wirklichkeit einer Nation im Krieg.

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Klingbeil und Mützenich treffen die oberste Riege in Kiew: Neben Kuleba noch den Parlaments­präsidenten Ruslan Stefantschuk und Premier­minister Denys Schmyhal. Am Abend nehmen sie dann mehr als zwei Stunden an einer Lagesbesprechung im Präsidentenpalast mit Generalen teil. Präsident Wolodymyr Selenskyj kommt dazu und nimmt sich 40 Minuten Zeit für die deutschen Gäste. Mehr Aufmerksamkeit können der Parteichef und der Bundestags­fraktionschef nicht bekommen. Es ist ein Zeichen, wie sehr Kiew auf Deutschland zählt.

„Dass die SPD-Spitze heute da ist, ist wahnsinnig wichtig“, sagt Klitschko. Er meint: wichtig für die SPD. Menschen bräuchten persönliche Eindrücke. „Wenn man in Berlin sitzt, hat man einen ganz anderen Blickwinkel. Mit Ferndiagnosen für ein Land im Krieg liegt man oft daneben, wenn man diese unter den guten und sicheren Bedingungen der Demokratie trifft.“ Es sei gut, wenn Sozialdemokraten ihre frühere unkritische Nähe zu Russland reflektierten, sagt der Bruder des Bürgermeisters von Kiew, Vitali Klitschko. Es sei aber nicht okay, wenn die Ukraine nicht schnell genug neue Waffen und Munition bekäme. Das koste Menschenleben.

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Der Krieg wird sich daran entscheiden, wem die Munition zuerst ausgeht

Klingbeil betont, sie wollten ein Jahr nach Kriegsausbruch die Aufmerksamkeit weiter hochhalten „und dafür sorgen, dass die Unterstützung der Ukraine weitergeht – militärisch, politisch, finanziell“. Er spricht die schnelle Anbindung der Ukraine an die EU an und thema­tisiert auch den von Kiew seit Wochen beklagten Mangel an Munition. Letztlich wird sich dieser Krieg daran entscheiden, wem die Munition zuerst ausgeht.

Mützenich erklärt, alle demokratischen Staaten, insbesondere westliche Partner, müssten das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine unterstützen. Er pocht auf diplomatische Bemühungen, betont aber: „Diplomatie ist eben nicht misszuverstehen als Verhandlung mit Putin.“ Er meint als Vermittler etwa Indien, Brasilien, China, die noch Einfluss auf Russland haben.

Es ist das erste Mal, das Klingbeil und Mützenich seit Russlands Überfall am 24. Februar 2022 in der Ukraine sind. Es wird nicht spurlos an ihnen vorübergehen. Es macht tatsächlich einen Unterschied, ob man im sicheren Berlin um Waffenlieferungen für die Ukraine ringt oder im unsicheren Kiew bei Luftalarm darauf hofft, dass einem keine russische Rakete auf den Kopf fällt.

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Zur Normalität gewordene Sirenen

Oder wenn man durch das Regierungsviertel fährt und die Fenster der unteren Stockwerke mit Sandsäcken verbarrikadiert sind, ebenso die Eingänge. „Hinter Säcken kann man sich gut verstecken“, witzelt ein Dolmetscher. Den Humor haben sie ihnen hier nicht genommen. Die Sandsäcke sind nicht nur Schutz, dazwischen sind Schießscharten.

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Dass ein Jahr und zehn Tage nach Putins Überfall auf das Nachbarland am Montag in der Hauptstadt keiner losläuft, als die hier zur Normalität gewordene Sirene ertönt, hat aber durchaus auch mit Deutschland zu tun. Dank des gelieferten Luftverteidigungssystems Iris‑T könnten die meisten Angriffe abgewehrt werden, heißt es. Vizeverteidigungsminister Andrii Schewtschenko überreicht Klingbeil und Mützenich ein Gastgeschenk der besonderen Art: Splitter einer abgeschossenen russischen Rakete.

ARCHIV - 25.02.2021, Berlin: Bruno Kahl, Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), blickt am Rande eines Interviews mit einem Journalisten der Deutschen Presse-Agentur in die Kamera des Fotografen. (zu dpa "BND-Chef fordert: Unsere Warnungen nicht mehr als «Panikmache» abtun") Foto: Kay Nietfeld/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Nachrichtendienst-Chef: „Es ist ein sehr grausamer, brutaler Abnutzungskrieg“

Der Chef des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, spricht im RND‑Exklusiv­interview über die Erkenntnisse des BND zu Putins Plänen und über die Spionagefahr aus China. Kahl schildert auch, warum er am Tag des russischen Überfalls in Kiew war und wie er aus der Stadt entkommen ist.

Und doch ist die Lebensgefahr real. Kürzlich schlug wieder eine Bombe auf einem Spielplatz ein. Im Osten des Landes liefern sich ukrainische und russische Truppen eine brutale Schlacht, wie Europa sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt habe, sagen Diplomaten. Es sei ein Krieg, der am Ende dadurch entschieden werde, wer über mehr Militärgerät und mehr Menschen verfüge – und sie zu opfern bereit sei.

Mützenich fühlt sich sichtlich unwohl

Mützenich wirkt ein wenig verloren, wenn er zwischen Klitschko und Klingbeil steht, den beiden fast zwei Meter großen Männern, der ehemalige Boxer in olivfarbener Steppjacke, der SPD‑Parteichef im gleichfarbigen Parka. Sie umarmen sich, sie sind die jüngere Generation, entschlossen zur Führung. Klitschko mit seinem Bruder, dem Bürgermeister. Klingbeil in Deutschland. Als „Führungsmacht“ sieht er die Bundesrepublik und will das nicht rein militärisch verstanden wissen, sondern als Kraft für die Werte der Demokratie und ihrer Verteidigung in einem „Zentrum“ gleichgesinnter Staaten.

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Mützenich und Kiew hier mit dem Ministerpräsidenten der Ukraine: Denys Schmyhal.

Mützenich und Kiew hier mit dem Ministerpräsidenten der Ukraine: Denys Schmyhal.

Mützenich fühlt sich sichtlich unwohl, wenn die Kameras laufen, während er die Bilder der Toten anschaut. Am liebsten wäre er inkognito gereist. Aber der Besuch in Kiew soll nicht nur das klare Signal der Unterstützung für die Ukraine senden, sondern auch eines der Geschlossen­heit von SPD‑Partei und ‑Fraktion.

Mützenich räumt ein: Putins Brutalität unterschätzt

Der 63-jährige Bundestagsfraktionschef hatte in den vergangenen Monaten immer wieder gemahnt, neben Waffenlieferungen an die Ukraine auch die Diplomatie mit dem Ziel eines Waffenstillstands zu verstärken. Ihm und jenen Sozialdemokraten, die Russland in der Vergangen­heit eng verbunden waren und Waffenlieferungen zunächst zurückhaltend gegenüberstanden, wurde das als mangelnde Solidarität mit Kiew vorgehalten.

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Gerhard Schröder gilt als langjähriger Freund Putins. Seine Nähe zu Russland und seine Tätigkeiten bei russischen Unternehmen haben dafür gesorgt, dass er aus zahlreichen Verbänden und Vereinen ausgeschlossen worden ist. Was er bisher verloren hat – und was ihm noch bleibt.

Mützenich hat eingeräumt, dass er Putins Brutalität unterschätzt habe. Aber er stehe damit nicht allein da. Auch in deutschen Zeitungen sei die Entwicklung nicht richtig wiedergegeben worden. „Deswegen bin ich manchmal etwas verwundert über diejenigen in Deutschland, die angeblich immer alles gewusst haben. Ich habe nicht alles gewusst“, sagte er schon vor einigen Tagen.

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Über die Toten vom Maidan sagt Mützenich: „Es ist für mich bedrückend.“ Der langjährige Außenpolitiker hat aber schon viel Leid in seinem Leben gesehen. Und gerade deshalb lässt er sich nicht von seiner Forderung nach Diplomatie abbringen. Klingbeil und er verstehen sich beide als politische Erben des früheren Bundeskanzlers und Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt. Welchen Kurs Brandt heute in dieser Zeitenwende wohl fahren würde? Den ihren, sind sich beide sicher. Schon Brandt habe auf beides gesetzt: militärische Stärke und Diplomatie.

„Es ist die Zeit der Monster“

Um zu erklären, in welch tiefer Krise Europa durch Russlands Krieg steckt, berufen sich Klingbeil und Mützenich indes auch auf einen italienischen Marxisten, der vor dem Zweiten Weltkrieg die Zerstörung der Zivilisation durch die Faschisten erahnte. 1937 schrieb Antonio Gramsci: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.“ Im Bundestag hatte Mützenich vergangene Woche in der Debatte über das erste Kriegsjahr betont, Putin sei für ihn ein „Monster“.

„Wenn der russische Präsident nach Kiew kommt und auf die Knie geht und um Verzeihung bittet und Reparationen zahlt, wird das ukrainische Volk sagen, es ist an der Zeit, dass wir die Vergangenheit ruhen lassen.“

Wladimir Klitschko

Und doch hält Wladimir Klitschko eine spätere Aussöhnung für möglich. „Die Geschichte hat schon gezeigt, dass kriminelle Regime vieles zerstören können. Aber das Leben kann man nicht stoppen“, sagt er dem RND. Dafür müsste aber diese Voraussetzung erfüllt sein: „Wenn der russische Präsident nach Kiew kommt und auf die Knie geht und um Verzeihung bittet und Reparationen zahlt, wird das ukrainische Volk sagen, es ist an der Zeit, dass wir die Vergangenheit ruhen lassen.“ Das Vorbild: der historische Kniefall des Kanzlers Willy Brandt vor dem Mahnmal zum Gedenken an den jüdischen Getto-Aufstand von 1943 in Warschau.

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Rolf Mützenich und Lars Klingbeil im Zug nach Kiew.

Rolf Mützenich und Lars Klingbeil im Zug nach Kiew.

Klingbeil und Mützenich waren von Berlin nach Rzeszow im polnischen Karpatenvorland geflogen und von dort nach Przemysl nahe der ukrainischen Grenze gefahren, von wo sie über Nacht gut zehn Stunden mit einem Sonderzug nach Kiew fuhren. Einer der Waggons erinnert ein wenig an das Interieur des Zuges in dem Western „Spiel mir das Lied vom Tod“. Daran will hier aber keiner denken. Denn es ist ein Zug ins Leben. Für die Ukraine, für Europa. Und irgendwann auch für Frieden mit Russland. Das soll die Botschaft sein.

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