„Wir stehen nicht auf ihrem Speiseplan“: Wissenschaftler über die Walangriffe auf Segelboote
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Ein Orca schwimmt in der Straße von Gibraltar auf ein Fischerboot zu. Die schweren Angriffe der Raubtiere richten sich vor allem gegen Segelschiffe.
© Quelle: imago images/robertharding
Madrid. „Orcas sind für uns immer sehr dramatische Tiere gewesen“, sagt Mark Simmonds, wissenschaftlicher Direktor bei der Meeresschutzorganisation Oceancare. Dramatisch im Sinne von: spektakulär, aufregend. Denen fallen immer wieder Überraschungen ein. Neuerdings, seit 2020, spielen sie in der Straße von Gibraltar mit kleinen Segelbooten – kein Spiel, das den Menschen an Bord gefällt. Anfang Mai erwischte es die „Albaron Champagne“ in der Nähe von Barbate an der spanischen Südküste. Anderthalb Stunden lang hätten die Tiere auf sein Boot „eingehämmert“, berichtete der Schweizer Werner Schaufelberger hinterher dem Züricher „Tagesanzeiger“. Die spanische Seenotrettung brachte die Besatzung in Sicherheit, kurz darauf sank die Jacht.
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Marc Simmonds ist wissenschaftlicher Direktor bei der Meeresschutzorganisation Oceancare.
© Quelle: privat
Wenn Tiere etwas tun, was sie bisher nicht getan haben, sucht der Mensch Erklärungen. Welchen Nutzen ziehen sie aus dem, was sie tun? Wahrscheinlich ist die Frage falsch gestellt. „Neue Verhaltensweisen unter Orcas gibt es immer wieder“, sagt Simmonds. „Und manche dieser Verhaltensweisen haben keinen offensichtlichen Nutzen für die Tiere.“ Es ist ihnen schon eingefallen, die Laute anderer Tierarten zu imitieren. Oder sich einen toten Lachs auf den Kopf zu legen. Jetzt stößt eine Gruppe von ihnen, die im Frühjahr und Sommer in der Straße von Gibraltar lebt, gelegentlich Segelboote an und macht sich über deren Ruder her.
„Sie zeigen einander, wie stark sie sind. Was sie draufhaben. Wie interessant sie sind“, glaubt Simmonds. So wie ein Pfau, der sein Rad schlägt. Oder wie ein Kind, das ruft: „Guck mal, was ich kann.“ „Oder wie ein Erwachsener“, sagt Simmonds, „der in seinem besten Staat durchs Dorf spaziert.“ Oder mit seinem Porsche durch die Gegend fährt.
Wahrscheinlich gehen sie nicht auf Menschenjagd
Was die Orcas – oder Schwertwale – wahrscheinlich nicht tun, ist auf Menschenjagd zu gehen. Ihr Angriff auf die Boote ist in Wirklichkeit kein Angriff, auch wenn sich das für die Bootsbesatzungen so anfühlt. Orcas sind die Könige der Meere. Jede Gruppe von ihnen (jede „kulturelle Einheit“, sagt Simmonds) hat ihre eigenen Ernährungsgewohnheiten. Manche greifen andere Wale an und fressen sie – weswegen sie auch den Beinamen Killerwale tragen: nicht weil sie alles killen, was ihnen in den Weg kommt, sondern weil sie in der Lage sind, Wale zu töten. In der Gegend von Neuseeland lebt eine Gruppe, die sich auf Haie und Rochen spezialisiert hat. Die Großfamilie in der Straße von Gibraltar – mit wahrscheinlich 39 Mitgliedern – liebt den Thunfisch. Menschen aber verschmähen sie. Jedenfalls gibt es keinen bekannten Fall, in dem wild lebende Orcas nach Menschen geschnappt hätten. „Wir stehen nicht auf ihrem Speiseplan“, sagt Simmonds.
Seit im Jahr 2020 – zuerst vor der Küste im nordwestspanischen Galicien, wo sich die iberischen Orcas im Spätsommer und Herbst aufhalten – die ersten Bootsberührungen gemeldet wurden, wird über diese Zwischenfälle Buch geführt. 505 solcher „Interaktionen“ (wie es die Fachleute nennen) gab es bisher. Meistens ist kaum etwas passiert. Etwa 100 Boote nahmen in der einen oder anderen Form Schaden, drei von ihnen gingen, so wie die „Albaron Champagne“, unter. Alle Menschen kamen heil davon.
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Orcas attackieren Segelboote: Wollen sie sich am Menschen rächen?
Orcas vor der iberischen Halbinsel zerstören gezielt die Ruder von Segelbooten. Hunderte Fälle sind dokumentiert. Was treibt die intelligenten Tiere an? Macht ihnen das Demolieren Spaß? Oder wollen sie sich womöglich am Menschen rächen?
App und GPS-Sender sollen helfen
Die Zwischenfälle wären vermeidbar, sagt der Präsident der Walschutzorganisation Circe, Renaud de Stephanis, im Gespräch mit dem spanischen Staatsrundfunk RTVE, „wenn die Leute einfach nur darüber informiert wären, wo sie sich bewegen können und wo nicht“. Seit März gibt es eine App, Orcinus, auf der die Nutzerinnen und Nutzer Sichtungen und Begegnungen mit Schwertwalen registrieren können. Die spanische Regierung will außerdem sechs der Tiere mit GPS-Sendern markieren, was den Orcas wahrscheinlich nicht gefällt, was aber ermöglicht, ihren Aufenthaltsort zu kennen – um sie in Ruhe zu lassen.
Sowieso sind die Orcas weniger ein Problem für uns Menschen als wir für sie. Zwar machen wir keine Jagd auf sie, aber als ungewollter Beifang landen sie in den Fischernetzen wie jährlich Zehn- oder Hunderttausende andere Wale und Delfine auch. Was ihnen aber am meisten zu schaffen macht, sagt Simmonds, ist die Meeresverschmutzung, vor allem mit Polychlorierten Biphenylen (PCBs), die mit großer Sicherheit ihre Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen. An der Westküste Schottlands wird seit den 1990er-Jahren eine Gruppe von ursprünglich zehn Orcas beobachtet, die heute nur noch aus zwei (männlichen) Mitgliedern besteht, also vor dem Verschwinden steht. Dasselbe Schicksal droht den iberischen Orcas. „Sie sind schwer mit Umweltgiften belastet“, sagt Simmonds. „Es ist absehbar, dass ihre Fortpflanzung in Gefahr ist.“ Das ist das eigentliche Drama.