Prozess gegen Lina E.

Politisch motivierte Kriminalität auf Höchststand

Holger Münch und Nancy Faeser bei der Bundespressekonferenz zu den Fallzahlen für die politisch motivierte Kriminalität.

Holger Münch und Nancy Faeser bei der Bundespressekonferenz zu den Fallzahlen für die politisch motivierte Kriminalität.

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Berlin. Die politisch motivierte Kriminalität in Deutschland hat im vergangenen Jahr einen neuen Höchststand erreicht. Das geht aus der jüngsten Statistik hervor, die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, am 9. Mai in Berlin vorgestellt haben.

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Insgesamt 58.916 politisch motivierte Straftaten registrierte die Polizei in Bund und Ländern im Jahr 2022. Im Vergleich zum Vorjahr sind die Zahlen um etwa 7 Prozent angestiegen, im Zehnjahresvergleich haben sie sich sogar beinahe verdoppelt. Den größten Anteil machten dabei wie bereits 2021 Delikte aus, die aus Sicht der Behörden nicht eindeutig einem politischen Spektrum zuzuordnen sind, sowie Straftaten von rechts.

„Die politisch motivierte Kriminalität ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft und der gesellschaftlichen Konflikte in unserem Land“, sagte Nancy Faeser. „Der Jahresanfang 2022 war noch sehr geprägt von der Corona-Pandemie, den Protesten, dem Hass und den Verschwörungserzählungen dieser Zeit.“ Seit dem 24. Februar 2022 habe sich jedoch vieles verändert. Der russische Angriffskrieg bedeute auch eine Zeitenwende für die innere Sicherheit in Deutschland.

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Über 24.000 Straftaten laut Polizei „nicht zuzuordnen“

Zu dem Anstieg der Zahlen im Bereich der „nicht zuzuordnenden“ politischen Straftaten haben laut BKA insbesondere Taten im Rahmen von Demonstrationen und Kundgebungen beigetragen – vor allem bei Versammlungen von Corona-Maßnahmengegnern, später aber auch bei Versammlungen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine und der Energiekrise in Deutschland. Mit Demonstrationen rund um den Krieg lässt sich auch der Anstieg in einem weiteren Bereich erklären: der politisch motivierten Kriminalität im Phänomenbereich „ausländische Ideologie“. Hier haben sich die gezählten Straftaten mehr als verdreifacht auf 3886. „Das verdeutlicht, dass weltweite Konflikte und Krisenherde, die auf den ersten Blick weit entfernt scheinen, einen teils deutlichen Einfluss auf die Sicherheitslage in Deutschland haben“, erklärte BKA-Chef Münch.

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Mehr rechte Straf- und Gewalttaten

Erneut angestiegen sind auch die Straf- und insbesondere Gewalttaten von rechts. „Der Rechtsextremismus bleibt die größte Bedrohung für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung“, sagte Münch. Maßgeblich für den Anstieg seien Propagandadelikte gewesen. „Ein Schwerpunkt der gemeldeten Straftaten lag aber mit über 8700 Fällen im Bereich der Hasskriminalität.“ Hass und Hetze böten den Nährboden für physische Gewalt. Die rechten Gewalttaten sind dem BKA zufolge um mehr als 12 Prozent auf 1170 angestiegen. Auch Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte haben demnach wieder zugenommen.

Ebenfalls angestiegen sind die Straf- und Gewalttaten aus dem Bereich der „Reichsbürger und Selbstverwalter“ – jeweils um 40 Prozent. Diese Taten machten deutlich, dass zumindest Teile der Szene gewillt seien, die eigene Ideologie auch unter Gewaltanwendung zu verteidigen, sagte Münch und verwies auf die Schüsse auf einen Polizisten bei einer Reichsbürger-Razzia in Reutlingen im März.

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Um mehr als 30 Prozent zurückgegangen sind dagegen die Straf- und Gewalttaten von links. Die linken Straftaten liegen nun mit 6976 Delikten auf einem Tiefstand der vergangenen zehn Jahre. Das sei vor allem durch die geringere Zahl größerer Einzelereignisse im vergangenen Jahr zurückzuführen, die Anlass für große linksextreme Proteste gegeben hätten, erklärte Münch. Einen Anstieg gab es bei Straftaten im Zusammenhang mit Umweltschutz- und Klimathemen. Dabei verwiesen Faeser und Münch insbesondere auf die Proteste der „Letzten Generation“. Anzeichen für eine Radikalisierung der „Klimakleber“ sehe sie jedoch keine, sagte Faeser.

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Auf niedrigem Niveau (481) stagnierten die Straftaten aus dem Bereich „religiöse Ideologie“. Der islamistische Terrorismus bleibe aber auch weiterhin eine Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland.

Polizeigewerkschaft beklagt „politische Tatenlosigkeit“

Massiv angestiegen sind im vergangenen Jahr die „Straftaten gegen den Staat und seine Vertreter“. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) forderte angesichts dessen Maßnahmen der Politik – etwa einen Runden Tisch zu Gewalttaten gegen Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste. „Eine schnelle Lösung sehe ich ob der politischen Tatenlosigkeit nicht. Das ist ernüchternd und ärgerlich“, sagte der GdP-Bundesvorsitzende Jochen Kopelke. „Unsere Kolleginnen und Kollegen werden also weiterhin, womöglich noch öfter, mit Staatshassern, Hetzern, Verschwörungserzählern, sich radikalisierenden Klimaaktivisten und Extremisten zu tun haben“, so Kopelke. Straftaten gegen die Polizei waren im vergangenen Jahr um etwa 13 Prozent zurückgegangen.

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Schon vor der Pressekonferenz von Nancy Faeser und Holger Münch hatte Anfang Mai auch der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) seine Jahresbilanz für 2022 vorgestellt. Der Verband von Opferberatungsstellen in zehn der 16 Bundesländer stellte ebenfalls einen deutlichen Anstieg rechter Gewalt fest. Der Statistik der Beratungsstellen zufolge wurden 2871 Menschen Opfer rechtsmotivierter Angriffe.

Opferberatungsstellen befürchten Untererfassung rechter Straftaten

Die Beratungsstellen gehen aber von einem großen Dunkelfeld aus, wie Verbandsvorstandsmitglied Robert Kusche erklärte: Zum einen seien sie nicht in allen Bundesländern vertreten. Zum anderen fehlten gerade in den großen Flächenländern die Mittel, um rechte Gewalttaten in vollem Umfang aufnehmen zu können. Sultana Sediqi von der Organisation Jugendliche Ohne Grenzen, die ebenfalls an der Pressekonferenz teilnahm, beklagte insbesondere einen Anstieg rassistischer Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche.

Der Verband der Beratungsstellen befürchtet zudem eine massive Untererfassung des Ausmaßes rechter Straftaten durch die Behörden. Ermittlungsbehörden würden rassistische Tatmotive oft verschweigen, sagte Kusche. Außerdem könnten viele der laut Polizei „nicht zuzuordnenden“ Straftaten eindeutig dem rechtsextremen Bereich zugeordnet werden – etwa weil den Taten antisemitische Verschwörungserzählungen zugrunde lägen. „Wir haben ein Lagebild, das nicht der Realität entspricht“, bemängelte Kusche.

BKA-Chef Münch wies das zurück: Es gebe keine Untererfassung rechtsextremer Straftaten. Die Polizei verlasse sich in ihrer Zuordnung auch auf wissenschaftliche Forschung. Demnach seien zwar große Teile der „Querdenker“ und Verschwörungsideologen von rechtsextremer Ideologie geprägt, aber nicht alle.

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Grüne Mihalic: Zuordnungssystem seit langem überarbeitungswürdig

Auch die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, Irene Mihalic, kritisierte die Nichtzuordnung von Straftaten in den Bereich Rechtsextremismus: „Die Hausdurchsuchungen von Reichsbürgern haben gezeigt, dass die offiziellen Zahlen zum Waffenbesitz von Verfassungsfeinden trotzdem wohl nur die Spitze des Eisberges sind. Umso weniger leuchtet es ein, dass viele Straftaten nicht konsequent dem rechten Spektrum zugeordnet werden. Das Definitions- und Zuordnungssystem ist seit langem überarbeitungswürdig“, sagte sie.

Derweil sieht der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, trotz eines Rückgangs antisemitischer Straftaten bei der politisch motivierten Kriminalität keinen Grund zur Entwarnung. „Natürlich freue ich mich, dass erstmals seit einigen Jahren die Zahl der erfassten antisemitischen Straftaten rückläufig ist“, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Gleichwohl besorgen mich das weiterhin inakzeptabel hohe Niveau wie die Tatsache, dass die Gewaltdelikte auch in diesem Bereich weiter angestiegen sind.“

Holger Münch gab auch einen Überblick über die jüngsten Entwicklungen der Fallzahlen zur politisch motivierten Kriminalität und einen vorsichtigen Blick nach vorn: In den vergangenen Monaten habe es deutlich weniger Proteste gegeben – und damit auch weniger Fälle aus dem Bereich „nicht zuzuordnen“. „Wenn sich das Jahr so weiterentwickelt, haben wir wahrscheinlich einen spürbaren Rückgang der Fallzahlen aber mit einem erhöhten Niveau der klassischen politisch motivierten Kriminalität“, sagte Münch. Dann stünden die eindeutig rechtsextremen Straftaten im kommenden Jahr wieder an erster Stelle der Statistik. Mit neuen gesellschaftlichen Herausforderungen könnten die Zahlen aber jederzeit auch wieder ansteigen.


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