Kemal Kilicdaroglu: Kann der „türkische Gandhi“ gegen Erdogan gewinnen?
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Der Mitte-links-Politiker Kemal Kilicdaroglu tritt bei der türkischen Präsidentenwahl Mitte Mai gegen den amtierenden Staatschef Recep Tayyip Erdogan an. Der 74-Jährige galt lange als ein schwacher Herausforderer.
© Quelle: Getty Images
Ankara. Die Privatresidenz von Recep Tayyip Erdogan und seiner Frau Emine im 1100-Zimmer-Palast in Ankara kennen nur ganz wenige. Aber wie Kemal Kilicdaroglu wohnt, wissen fast alle Türken – dank der Videos, mit denen der Erdogan-Herausforderer im Internet für seine Sache wirbt. Mal sitzt er vor einem Bücherregal in seinem kleinen Arbeitszimmer, mal am Tisch der altmodischen Küche. Neulich hielt er eine Zwiebel hoch und beklagte, dass selbst diese Knolle wegen der Inflation für viele Familien zum Luxusgut geworden ist. Der Kilopreis hat sich in den vergangenen sechs Monaten verdreifacht.
Ein größerer Kontrast als der zwischen Erdogan und Kilicdaroglu ist kaum vorstellbar. Kilicdaroglu fehlt das demagogische Talent, aber dafür hat er sein ganz eigenes Charisma. Während Erdogan polarisiert, versucht Kilicdaroglu zu einen. Manche sehen in ihm einen „türkischen Gandhi“, wegen einer entfernten äußerlichen Ähnlichkeit mit dem Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung und wegen der Sanftmütigkeit und Besonnenheit, die er ausstrahlt.
Erdogan setzt Wahlen in der Türkei offiziell für 14. Mai an
Die Wahlen werden damit rund drei Monate nach den schweren Erdbeben und etwa einen Monat früher als zunächst gedacht erfolgen.
© Quelle: Reuters
Kilicdaroglu wuchs als eines von sieben Kindern einer Beamtenfamilie im osttürkischen Tunceli auf. Er studierte Wirtschaft und Verwaltungswissenschaften, wurde Beamter im Finanzministerium, bevor er 2002 mit 54 Jahren in die Politik ging – ein Späteinsteiger. Seit 13 Jahren führt er die sozialdemokratische Oppositionspartei CHP, die auf den Republikgründer Mustafa Kemal zurückgeht, den späteren Atatürk.
Komplettes Gegensatz zu Erdogans Prunksucht
Kilicdaroglu gilt als ehrlich, zuverlässig und integer – Eigenschaften, die in der türkischen Politik nicht häufig anzutreffen sind. Seine Themen sind der Kampf gegen Korruption und Vetternwirtschaft, das Eintreten für Gerechtigkeit und Demokratie. Um Bürgerrechte und Meinungsfreiheit einzufordern, marschierte Kilicdaroglu 2017 über 400 Kilometer zu Fuß von Ankara nach Istanbul.
Er ist nett und sehr ruhig, ein bisschen zu ruhig. Man kann nicht mal einen richtigen Streit mit ihm haben.
Selvi Kilicdaroglu, Ehefrau des Präsidentschaftskandidaten
„Er ist nett und sehr ruhig, ein bisschen zu ruhig“, sagt Kilicdaroglus Frau Selvi über ihren Mann. Er werde nie laut, „man kann nicht mal einen richtigen Streit mit ihm haben“. Aber wenn nötig, findet Kilicdaroglu deutliche Worte. Erdogan bezeichnet er ungeniert als „Diktator“.
Kilicdaroglu pflegt einen bescheidenen Lebensstil, im Gegensatz zu Erdogans Prunksucht. Dessen protzigen Palast – viermal größer als das Schloss von Versailles - will Kilicdaroglu nicht beziehen, falls er zum nächsten Präsidenten gewählt wird. Stattdessen plant er, den Amtssitz des Staatsoberhaupts in die Cankaya-Villa zurückzuverlegen, wo schon Atatürk und alle Präsidenten nach ihm residierten – bis auf Erdogan. Von den 16 Regierungsjets, die Erdogan angeschafft hat, will Kilicdaroglu 15 verkaufen. Und während das Ehepaar Erdogan in seiner Residenz ein ganzes Heer von Dienern, Köchen und Kellnern beschäftigt, versprach Kilicdaroglu jetzt in einem offenen Brief, er werde als Präsident für alle persönlichen Ausgaben, einschließlich Mahlzeiten, aus eigener Tasche aufkommen.
Kilicdaroglu gilt als schwacher Erdogan-Herausforderer – doch Umfragen malen ein anderes Bild
Kilicdaroglu könnte von Erdogans Schwäche profitieren. Dabei galt er selbst lange als kraftloser Herausforderer. Ihm fehlen das Charisma und die demagogischen Talente, mit denen Erdogan auftrumpft. Er gehört der religiösen Minderheit der Alewiten an, die wegen ihrer liberalen Auslegung des Islam von strenggläubigen Sunniten wie Erdogan verachtet werden. Überdies scheint Kilicdaroglu mit seinen 74 Jahren nicht gerade jenen Neubeginn zu verkörpern, den viele Oppositionelle in der Türkei herbeisehnen. Den populären CHP-Bürgermeistern von Istanbul und Ankara, Ekrem Imamoglu und Mansur Yavas, die ebenfalls als Kandidaten gehandelt wurden, bescheinigten die Demoskopen wesentlich bessere Chancen. Doch der beharrliche Kilicdaroglu setzte sich schließlich durch.
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Kemal Kilicdaroglu, der Präsidentschaftskandidat der Nation Alliance und Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei CHP, spricht bei der Großen Istanbul-Kundgebung in der Türkei zu seinen Anhängern.
© Quelle: IMAGO/ZUMA Wire
Und nun melden die Meinungsforscher einen überraschenden Stimmungswandel. Noch Ende Februar kam Kilicdaroglu in einer Umfrage des Instituts Areda nur auf magere 21,7 Prozent, Erdogan hingegen lag bei 49,8 Prozent. Seit der Nominierung des CHP-Chefs zum gemeinsamen Oppositionskandidaten hat sich das Bild komplett gewandelt. Das Meinungsforschungsinstitut Aksoy prognostiziert für Kilicdaroglu nun 55,6 Prozent. Die Demoskopen des Instituts Piar sehen ihn sogar bei 57,1 Prozent. Erdogan kommt in den jüngsten Erhebungen dagegen nur noch auf 43 bis 44 Prozent.
Die Opposition will Erdogans Präsidialsystem abschaffen
Die Oppositionsparteien haben sich darauf geeinigt, im Fall ihres Wahlsiegs das von Erdogan eingeführte Präsidialsystem abzuschaffen und zur parlamentarischen Demokratie zurückzukehren. Sie wollen die Unabhängigkeit der Justiz wiederherstellen und die Achtung der Bürgerrechte durchsetzen. Kilicdaroglu verspricht auch die Freilassung der beiden prominentesten politischen Gefangenen der Türkei, des Bürgerrechtlers Osman Kavala und des Kurdenpolitikers Selahattin Demirtas.
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Kemal Kilicdaroglu, der Präsidentschaftskandidat der Nation Alliance und Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei CHP.
© Quelle: IMAGO/Depo Photos
Die Kurdenpartei HDP, gegen die ein Verbotsverfahren läuft, hat bereits angedeutet, dass sie Kilicdaroglu bei der Präsidentenwahl unterstützen wird. Die HDP liegt in den Umfragen bei gut 11 Prozent. Ihre Anhängerinnen und Anhänger gelten als Königsmacher bei der Präsidentenwahl. Auch für die gleichzeitig stattfindende Parlamentswahl prognostizieren die Demoskopen einen Sieg der Oppositionsallianz.
Kilicdaroglu kann also gewinnen. Die Frage ist: Kann Erdogan verlieren? Eine Wahlniederlage würde für ihn nicht nur den Verlust der Macht bedeuten. Die Opposition will Erdogan und seine Clique wegen Korruption und Machtmissbrauch zur Rechenschaft ziehen. Oppositionelle rechnen deshalb damit, dass Erdogan alle Mittel nutzen wird, um an der Macht zu bleiben. Als Staatschef kontrolliert er den Sicherheitsapparat, die öffentliche Verwaltung, die Justiz und nicht zuletzt über 90 Prozent der Medien. Seine Leute sitzen an den Schaltstellen der Macht. Vor diesem Hintergrund ist ungewiss, wie fair der Wahlkampf und wie regulär die Abstimmung überhaupt ablaufen werden.