Was folgt aus den Statements der Virologen für Politik und Kliniken?
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Ein Passant trägt eine FFP2-Maske in der Hand (Symbolbild).
© Quelle: Boris Roessler/dpa/Symbolbild
Berlin/Hannover. Wie viele Monate, wie viele Infektionswellen, ja wie viele Weihnachtsfeste lang hatte Deutschland auf genau diese Worte aus eben diesem Munde gewartet! Und nun waren sie plötzlich da, ausgesprochen mitten in einer Krankheitsflut, in der es im ganzen Land an allen Ecken schnieft, hustet und fiebert – aber eben von jenem Mann, welcher den Deutschen als Einziger gilt, der diese verfluchte Zeit für beendet erklären kann.
Professor Christian Drosten, der Chefvirologe der Berliner Charité und oberste Corona-Versteher, -Erklärer und -Mahner des Landes. In einem langen, differenzierten Interview tauchte sie nach Weihnachten auf, die frohe Botschaft: „Die Pandemie ist vorbei.“
Drosten: ernste Situation in Kliniken
Zwar sagt Drosten in dem Gespräch, das der Berliner „Tagesspiegel“ an diesem Dienstag in voller Länge und tags zuvor in seiner Kernbotschaft veröffentlicht hat, keineswegs, dass Corona besiegt oder gar ausgerottet sei. Er äußert sich nicht zu den Konsequenzen, die die Politik daraus ziehen müsse.
Und er betont ausdrücklich, dass dieser Tage etliche verschiedene Erreger von Atemwegserkrankungen, von denen Corona nur eine sei, zugleich und in besonders ansteckenden Varianten kursieren und deshalb die Krankenhäuser in einer „ernsten Situation“ sind – „die Charité zum Beispiel ist derzeit im Notfallbetrieb“, sagt Drosten.
Aber er sagt eben auch: „Wir erleben in diesem Winter die erste endemische Welle mit Sars-Cov-2, nach meiner Einschätzung ist damit die Pandemie vorbei.“
Corona-Pandemie vorbei? Virologe Drosten erkennt „erste endemische Welle“
Die Corona-Pandemie ist nach Auffassung des Berliner Virologen Christian Drosten vorbei.
© Quelle: dpa
Ist damit amtlich, was viele Deutsche sich seit Monaten wünschen? Was landauf, landab in der Luft lag, weil eine herbst- und winterliche Covid-Welle ausblieb und die wenigen verbliebenen Corona-Schutzmaßnahmen von mehr und mehr Menschen immer offener ignoriert werden?
Fakt ist: Drostens Worte lösten eine Lawine aus. In der Politik, im Gesundheitswesen, in der Öffentlichkeit.
Expertinnen und Experten pflichten Drosten bei
Kein Wunder, galt doch der Professor mit den schwarzen Locken und dem weißen Kittel fast drei Jahre lang gerade dem „Team Vorsicht“ – inklusive der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel – als Deutschlands Chefvirologe. Hinzu kommt, dass zeitgleich andere namhafte Expertinnen und Experten sowie Regierungsberater wie der Verbandspräsident der Intensivmediziner Christian Karagiannidis dasselbe verkündeten.
Christian Karagiannidis: Infektionswelle hat Spitze erreicht
Trotzdem bleibt die Lage in Kliniken und Krankenhäusern angespannt – deshalb gibt es eine dringende Bitte in Sachen Böllern zu Silvester.
© Quelle: dpa
Sogar der Chef der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, beschrieb an diesem nachweihnachtlichen Dienstagmorgen im Deutschlandfunk zwar ebenfalls, dass das deutsche Gesundheitssystem und vor allem die Krankenhäuser im Moment ebenso überlastet seien wie mitten in der Pandemie.
Trotzdem stimmte er Drosten auch darin zu, dass die Pandemie gerade in eine Endemie übergehe, also nur noch kleinere Infektionswellen auftreten. Er halte einen Abbau der rechtlich verbindlichen Maßnahmen deshalb für vertretbar.
Ist es also tatsächlich so weit? Erleben wir die Zeitenwende aus der Corona-Ära in die Nach-Pandemie-Zeit – womöglich sogar zurück in die alte, freie Welt ohne Maskenpflicht und Schnelltests?
Bundesjustizminister fordert Ende aller Maßnahmen
Wenn es nach dem FDP-Bundesjustizminister geht, ist es genau so. Kaum waren Drosten Worte in der Welt, da twitterte Marco Buschmann in die mediale Zwischenjahresstille hinein, dass nun die letzten Einschränkungen beendet werden sollten.
Bereits am Mittag reichte er die Gesetzespassagen nach, die es der Bundesregierung erlauben, „bundesweit einheitliche Corona-Maßnahmen durch Rechtsverordnung auch vor dem 7. April 2023“ zu beenden. Tatsächlich müssten nicht einmal die Landesregierungen im Bundesrat zustimmen, wenn ihre Verpflichtungen zum Infektionsschutz bundesweit gekippt würden – nicht einmal bei der Maskenpflicht in Bus und Bahn.
„Es wird Zeit, die Pandemie endlich für beendet zu erklären“
Aus der FDP wuchs der entsprechende Druck schlagartig: „Es gibt keinen ausreichenden Grund mehr für staatlich verordnete Schutzmaßnahmen“ erklärte etwa der gesundheitspolitische Sprecher der FDP, Professor Doktor Andrew Ullmann. „Wir können und müssen wieder mehr Eigenverantwortung zulassen. Andere Staaten machen uns dies bereits vor.“
Auch aus der Unionsfraktion kamen prompt entsprechende Forderungen: „Es wird Zeit, die Pandemie endlich für beendet zu erklären“, forderte deren gesundheitspolitischer Sprecher Tino Sorge die Ampelkoalition auf. Masken- und Isolationspflichten müssten zum neuen Jahr mit wenigen Ausnahmen durch Empfehlungen ersetzt werden.
Einzig im Gesundheitswesen und in der Pflege seien Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 weiterhin angebracht. Noch im Januar müsste es eine Ministerpräsidentenkonferenz geben, auf der Bund und Länder gemeinsam den bundesweiten Ausstieg aus den Corona-Maßnahmen planen und einleiten, sagte Sorge dem RND.
Das sieht derjenige, der die entsprechende Rechtsverordnung schreiben müsste, allerdings anders: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, der noch kurz vor Weihnachten daran erinnert hatte, dass Corona noch immer gefährlich und heimische Schnelltests wichtig seien, hielt sofort gegen.
Lauterbach spricht sich gegen sofortiges Ende aller Corona-Maßnahmen aus
Bundesgesundheitsminister Lauterbach lehnt eine schnelle Aufhebung der noch bestehenden Corona-Maßnahmen ab. Zuvor hatten einige Politikerinnen und Politiker genau dies gefordert.
© Quelle: dpa
„Ein sofortiges Beenden aller Maßnahmen wäre leichtsinnig und wird auch von Christian Drosten nicht gefordert“, sagte der SPD-Politiker am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur. „Christian Drosten hat recht, dass wir in den endemischen Zustand der Corona-Wellen übergegangen sind, die Wellen betreffen nur Teile der Bevölkerung“, betonte er.
Trotzdem gelte es, jetzt noch die besonders gefährdeten Menschen zu schützen, etwa durch Masken in Pflegeeinrichtungen oder durch die Isolation am Arbeitsplatz. „Die Kliniken sind voll, das Personal überlastet, die Übersterblichkeit ist hoch und der Winter ist noch nicht zu Ende.“
Marburger Bund: „Aufhebung aller Maßnahmen ist zutiefst unsolidarisch“
Damit trifft der Gesundheitsexperte die Meinung von Ärztinnen und Ärzten sowie von Pflegepersonal zur aktuellen Debatte auf den Punkt. „Die Aufhebung aller Maßnahmen ist zutiefst unsolidarisch mit dem Klinikpersonal, das in der Pandemie viel geleistet hat und gerade wieder die Grenzen der Belastbarkeit erreicht hat“, sagte etwa die Vorsitzende des Ärzteverbandes Marburger Bund, Susanne Johna, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Vor weniger als einer Woche seien das Krankenhauspersonal, die Pflegekräfte und die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte von der Politik angefleht worden, mehr zu arbeiten und selbst über Weihnachten wegen der Infektionswelle Überstunden zu machen, schimpft die Medizinerin. „Trotz der hohen Belastung nun zu fordern, alle Maßnahmen umgehend aufzuheben, ist an Dreistigkeit gegenüber dem Gesundheitspersonal kaum zu überbieten.“
Bundesländer halten bislang an Einschränkungen fest
Unter den Bundesländern, die für das Gros der Maßnahmen zuständig sind, zeichnete sich denn auch am Dienstag noch keine Zeitenwende in Sachen Corona ab.
Rheinland-Pfalz begrüßte die Debatte zwar, will aber an der Maskenpflicht im öffentlichen Personennahverkehr und in den medizinischen Einrichtungen zunächst festhalten. Auch Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg planen keine Änderungen. Hessen will die Lage genau beobachten und dann entscheiden. Bayern und Sachsen-Anhalt haben die Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr bereits abgeschafft. Schleswig-Holstein plant diesen Schritt für den 1. Januar.
Immerhin Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) sagte dem RND: „Es ist an der Zeit, von einer Phase der Pflichten in eine Phase der Empfehlungen und der Eigenverantwortung überzugehen. Bayern macht das bereits in vielen Bereichen – und wir fahren gut damit.“
Das heiße allerdings nicht, „dass wir plötzlich unvorsichtig werden sollten“, betonte der aktuelle Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz. „Vielmehr geht es darum, dass wir unser Vorgehen an die Lage anpassen.“ Den Appell Buschmanns, jetzt alle Maßnahmen fallen zu lassen, nannte Holetschek unverhältnismäßig.
Ein bloßes Missverständnis?
Aber: „Die Bundesregierung sollte jetzt prüfen, inwiefern das Infektionsschutzgesetz an die aktuelle Lage angepasst werden sollte“, fordert er. „Es wäre ebenso unverhältnismäßig, die aktuellen Regelungen unverändert bis zum Ablauf des 7. April 2023, an dem sie planmäßig außer Kraft treten sollen, fortgelten zu lassen.“
War also alles ein Missverständnis? Wollte Christian Drosten uns lediglich auf die Zeit nach dem Winter einstimmen – und war das ein Fehler, weil es in der aktuellen Notlage der Kliniken falsche Signale setzt?
Seine Kolleginnen und Kollegen versuchen, die Lage aufzuklären. „Wir haben jetzt die Situation, dass uns das Virus in immer neuen Varianten heimsucht, aber nicht mehr so massive Wellen auslöst, die auch nicht zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führen“, sagte Martin Stürmer, Virologe an der Uni Frankfurt, dem RND. Und darum war es bei den Kontaktsperren und Schutzmaßnahmen ja gegangen.
Aber: „Durch die vielen Wellen und auch die Impfkampagne wurde eine gewisse Immunität aufgebaut. Wenn das Virus regelmäßig in der Bevölkerung zirkuliert, wird eine Grundimmunität aufrechterhalten.“
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Die Pandemie und wir
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„Pandemien enden, nachdem sich das Virus durch Anpassung abgeschwächt hat und praktisch alle Menschen eine Immunität haben“, sagte der Epidemiologe, Virologe und frühere Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation, Klaus Stöhr, dem RND.
Das Sars-CoV-2 Virus werde sich nun zu den bereits bekannten etwa 200 Atemwegserkrankungen „dazugesellen“ – „und dann genauso häufiger im Winter zu vielen Erkrankungen und seltenen Todesfällen führen“, so Stöhr. „In einigen Jahren wird man weniger von den gesundheitlichen Auswirkungen von Sars-CoV-2 sprechen als den gesellschaftlichen Verwerfungen während der Pandemie von 2020 bis 2022.“