Dürre, Trinkwasser, explodierende Minen

„Ich dachte, das darf nicht wahr sein“: Was bedeutet der zerstörte Staudamm für Mensch und Natur?

Überflutete Straßen in Cherson, nachdem der Kachowka-Damm gesprengt wurde.

Überflutete Straßen in Cherson, nachdem der Kachowka-Damm gesprengt wurde.

„Ich war schockiert, als ich das Video vom zerstörten Staudamm gesehen habe“, sagt Oleksandra Shumilova. „Ich dachte, das darf nicht wahr sein.“ Die ukrainische Umweltwissenschaftlerin forscht seit Langem zum Kachowka-Stausee, den Folgen eines sinkenden Wasserspiegels und Überflutungen im Süden der Ukraine. Ihr erster Gedanke galt trotzdem den Menschen, die in der Nähe des Staudamms leben und wegen des sehr schnellen Anstiegs des Wasserspiegels in kürzester Zeit evakuiert werden mussten. „Viele Menschen haben ihr Zuhause verloren“, sagt die Ukrainerin, die heute am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) forscht, und fügt im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) hinzu: „Es ist sehr schwierig, sich vorzustellen, wie ihr Leben nach diesem Tag weitergehen wird.“

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Mehr als 1500 Häuser sind nach Angaben der Behörden überflutet. Die unmittelbar am Staudamm gelegene Stadt Nowa Kachowka steht komplett unter Wasser. Nur noch die Dächer einiger Häuser ragen aus dem Wasser heraus und lassen erahnen, wo einst Straßen und Dörfer waren. „Die Ausbreitung des Wassers hat auch zur Detonation von Minen geführt, die zuvor entlang der Küste des Stausees gelegt wurden“, sagt Shumilova.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj reiste am Donnerstag in die Hochwasserregion. Im Gebiet Cherson habe er sich unter anderem ein Bild von den laufenden Evakuierungen gemacht, teilte Selenskyj am Donnerstag über seinen offiziellen Telegram-Kanal mit.

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In zahlreichen Orten, darunter in Kryvyi Rih, Marhanets und Nikopol, gibt es bereits Probleme mit der Wasserversorgung. Viele überschwemmte Siedlungen sind von der Strom-, Gas- und Wasserversorgung abgeschnitten. Mit Booten suchen Rettungskräfte nach Menschen, die auf ihren Dächern ihrer überschwemmten Häuser ausharren und auf Hilfe warten.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) betont, dass die betroffenen Siedlungen wegen der Nähe zur Frontlinie sich bereits vor der Zerstörung des Staudamms in einer schwierigen humanitären Lage befanden. „Die Zerstörung dieses Staudamms verschlimmert nur das Leid, das die Zivilbevölkerung in diesen Regionen bereits seit etwa 15 Monaten ertragen muss“, sagt Achille Després vom ICRC in Kiew dem RND. Viele waren schon vor Wochen wegen der Kämpfe geflüchtet, sagt Després, und die Behörden in den Regionen hätten gut funktionierende Notfallpläne für eine solche Situation.

Die Zerstörung dieses Staudamms verschlimmert nur das Leid, das die Zivilbevölkerung in diesen Regionen bereits seit etwa 15 Monaten ertragen muss.

Achille Després,

Internationales Komitee vom Roten Kreuz in Kiew (ICRC)

Bis Donnerstagvormittag wird das Wasser laut der Sprecher der Chersoner Militärverwaltung weiter steigen. Sollte der Staudamm weiter einbrechen, könnte der Pegel auch in den nächsten Tagen noch ansteigen. In der Großstadt Cherson sind viele Gebäude überschwemmt, die Einwohnerinnen und Einwohner werden evakuiert. Die Rettungsteams vor Ort sprechen von einer guten Koordination der Hilfe und effizienten Rettungsmaßnahmen.

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Nach Einschätzung der Hilfsorganisation Johanniter sind Zehntausende Menschen akut von den Überschwemmungen betroffen. „Es wurden Fahrzeuge für Evakuierungen bereitgestellt, weitere Nothilfsmaßnahmen werden gerade sondiert“, so Florian Beck, Johanniter-Programmreferent für die Ukraine. „Lebensmittellager sowie Infrastruktur wurden zerstört“, sagte er.

Ein Problem bei den Rettungsaktionen ist, dass Hilfskräfte oft nicht in die von Russland besetzten Gebiete gelangen. „Wir können nur in dem Gebiet helfen, das von der Ukraine kontrolliert wird“, so der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Mittwoch.

Die ökologischen Folgen der Überschwemmung und des fehlenden Wassers im Stausee lassen sich ebenso wie die Schäden noch nicht vollständig absehen. Doch schon jetzt zeigen erste Videos Tausende Fische, die im leer gelaufenen Stausee verenden. „Es kommt zu einem Massensterben von Fischen und Wasserpflanzen, die den schnell austrocknenden Gebieten nicht entkommen konnten“, so Umweltexpertin Shumilova. Durch die natürliche Zersetzung gebe es mehr organische Stoffe, aber weniger Sauerstoff. Das könne zur Algenblüte und einer schlechteren Wasserqualität führen.

Große Sorgen bereitet ihr das flussabwärts liegende Dnipro-Delta, ein besonders geschütztes Feuchtgebiet, das von Wassermassen überflutet wird. Dieses Biotop biete eine große Vielfalt natürlicher Lebensräume wie Flussinseln, Seen und Sümpfe, die wichtig für Zugvögel oder auch den Europäischen Nerz sind, der zu den bedrohtesten Säugetierarten Europas zählt. „Solche Kleintiere und vor allem Tierbabys können einer schnellen Überschwemmung nicht entkommen.“

Auf dem Grund des gesamten Stausees haben sich viele Schadstoffe angesammelt, die durch das Hochwasser verbreitet werden könnten.

Oleksandra Shumilova,

Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei

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Das Absinken des Wasserspiegels im Stausee führt zu einem weiteren Problem: „Auf dem Grund des gesamten Stausees haben sich viele Schadstoffe angesammelt, die durch das Hochwasser verbreitet werden könnten“, erklärt Shumilova. Wie stark sich dies auf die Umwelt auswirken wird, ist noch unklar. Denn niemand weiß, wie viel Wasser letztendlich im Stausee verbleiben wird.

Laut Kiew sollen bereits mehr als 150 Tonnen Maschinenöl durch die Überflutung in den Fluss Dnipro gelangt sein, weitere 300 Tonnen Öl drohen auszulaufen. Er verläuft entlang eines flachen Gebietes, sodass sich das Wasser mit dem Schmutz schnell ausbreiten kann. Wie lange die Landstriche überflutet bleiben, ist unklar. Doch schon jetzt hat die Überschwemmung gravierende Folgen für die Trinkwasserversorgung.

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Etwa 400.000 bis 450.000 Menschen im Süden der Ukraine sind auf das Trinkwasser aus dem Stausee angewiesen, das in fast alle Regionen der südlichen Landesteile gepumpt wird. Doch nun stehen Wasserentnahmestellen unter Wasser und Pumpen sowie Wasserleitungen sind zerstört oder funktionieren wegen der Überschwemmungen nicht. Die Trinkwasserversorgung der besiedelten Gebiete in den Regionen Dnipropetrowsk, Saporischschja und Cherson ist gefährdet, auch in Großstädten wie Melitopol, Energodar und Berdjansk. Das ICRC geht auch von großen Problemen oberhalb des Dnipro aus, wo der Zugang zu Wasser aufgrund des niedrigeren Flusspegels lange Zeit erschwert sein könne. Das ukrainische Gesundheitsministerium warnte vor der Ausbreitung von Krankheiten und Seuchen.

Das Wasser aus dem Stausee spielt auch eine entscheidende Rolle für das Bewässerungssystem der Landwirtschaft im Süden, das Kanäle von bis zu 1600 Kilometern Länge umfasst und das größte Bewässerungssystem Europas ist. Es versorgt rund 200.000 Hektar Felder mit Frischwasser, auf denen Bauern Getreide und Gemüse anbauen. Ein großer Teil davon ist für den Export in die ganze Welt bestimmt. Nach Angaben des ukrainischen Agrarministeriums sind innerhalb der ersten 24 Stunden bereits rund 10.000 Hektar des nördlichen Ufers überflutet worden. Am südlichen Ufer, dem von Russland besetzten Gebiet, sei ein Vielfaches dieser Fläche betroffen.

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Für die Landwirte wird es schwierig werden, in den nächsten Monaten Wasser aus dem Stausee zu entnehmen. Ob die Bauern in diesem Sommer genug Wasser für ihre Felder haben werden, weiß niemand. Wenn das Wasser zurückgeht, könnte es eine Wüste hinterlassen. Das Flutwasser sorgt außerdem dafür, dass Munition und altes Kriegsgerät zersetzt und Schwermetalle sowie giftige Sprengstoffe freiwerden. Die Belastung der Felder mit Giftstoffen, die für die regionale Landwirtschaft, die Lebensmittelproduktion und die internationale Ernährungssicherheit so wichtig sind, steigt nun rapide an.

Fachleute gehen davon aus, dass die Menschen im Süden der Ukraine noch lange Zeit unter den Folgen des von Russland zerstörten Staudamms leiden werden. Eine neue Staumauer zu bauen, dauere nach Angaben der ukrainischen Wirtschaftsministerin Julija Swyrydenko mindestens fünf Jahre. Vor Ende des Krieges sei damit aber nicht zu rechnen.

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