Nach Stechuhr-Urteil: Juristin warnt vor Angriffen auf Arbeitszeitgesetz
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Ein- und Auschecken mit Chipkarte: ein modernes Verfahren zur Arbeitszeiterfassung.
© Quelle: PCS Systemtechnik/dpa
Im Herbst hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass Arbeitszeiten lückenloser als bislang erfasst werden müssen – und so für helle Aufruhr in vielen Unternehmen gesorgt. Vor allem Überstunden jenseits der gesetzlichen Vorgaben erschwere das Urteil, meint Johanna Wenckebach, Direktorin des gewerkschaftsnahen Hugo-Sinzheimer-Instituts. „Die Arbeitszeiterfassung wird deshalb zum Anlass genommen, die geltenden Arbeitszeitregeln, die dem Schutz von Beschäftigten dienen, infrage zu stellen“, warnt die Juristin angesichts der nun ausgebrochenen Diskussion über eine Reform des Arbeitszeitgesetzes.
Die steht auf der Agenda, weil die Erfurter Richter einem jahrelangen Schwebezustand ein Ende gesetzt haben. Schon 2019 hatte der Europäische Gerichtshof erklärt, eine umfängliche Erfassung von Arbeitszeiten sei geboten. In Deutschland saß man die Entscheidung aus – bis das Bundesarbeitsgericht sie im September bestätigte: Alle Arbeitgeber müssten ein System einführen, mit dem „Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden“ erfasst und aufgezeichnet werden.
Reform des Arbeitszeitgesetzes geplant
Personaler und Arbeitsrechtler quer durch die Republik beklagten prompt, das Urteil sei zu unkonkret für die sofortige Umsetzung, andere warnten vor zusätzlicher Bürokratie. Noch größer sind die Sorgen um die beliebte Vertrauensarbeitszeit, bei der Unternehmen bislang weitgehend auf Zeiterfassung verzichten konnten. „Deutschland braucht keine auf die Minute festgelegten Acht-Stunden-Schichten, sondern Freiräume für eine selbstbestimmte und flexible Einteilung der Arbeit“, erklärte etwa Bitkom-Präsident Achim Berg.
Das Arbeitsministerium will den Rufen nach einer Gesetzesnovelle nun folgen: Voraussichtlich im ersten Quartal 2023 werde man „einen praxistauglichen Vorschlag für die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung im Arbeitszeitgesetz machen“, kündigte eine Sprecherin an.
Wenckebach warnt vor 42-Stunden-Woche
Details sind noch nicht bekannt, doch im Arbeitszeitgesetz ist eben nicht nur die Arbeitszeiterfassung geregelt: Angesichts jüngster Forderungen nach längeren täglichen Höchstarbeitszeiten oder einer 42-Stunden-Woche geht Sinzheimer-Direktorin Wenckebach deshalb von hitzigen Diskussionen aus. Schlussendlich sei die Arbeitszeiterfassung zum Schlüsselthema für Arbeitszeitpolitik geworden, „und das ist ein Mega-Thema“, so die frühere Gewerkschaftssekretärin.
Zugleich betonte Wenckebach, dass die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts große Vorteile für Beschäftigte berge: „Die Rechtsprechung von BAG und EuGH zur Arbeitszeiterfassung macht es Arbeitgebern schwerer, Überstunden unter dem Radar des Arbeitnehmerschutzes zu verlangen.“ Bisher hätten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oft in die Röhre geschaut, weil sie ihre Ansprüche etwa im Streit um unbezahlte Arbeitsstunden auch belegen müssen. „So kommen Millionen unbezahlter Überstunden zustande“, beklagt Wenckebach.
Urteil hat schon jetzt Folgen
Sorgen, dass Beschäftigte durch Arbeitszeiterfassung Freiräume einbüßen, tritt sie entgegen. Es werde zwar oft das veraltete Bild der Stechuhr bemüht, doch Zeitautonomie gehe nicht verloren. „Was eingeschränkt wird, ist die Möglichkeit von Arbeitgebern, rund um die Uhr auf Beschäftigte zugreifen zu können, wenn ihr Soll längst erfüllt ist oder sie Anspruch auf eine Pause haben“, sagte Wenckebach. Sie betont, dass Entgrenzung – also das Verwischen von Arbeit und Privatleben – krank mache.
Bis zur Verabschiedung einer möglichen Reform wird noch Zeit verstreichen. Die Anforderungen des Erfurter Urteils müssen aber schon jetzt umgesetzt werden, Gewerbeaufsichten können Verstöße ahnden. Und auch Beschäftigte haben nach Ansicht des Gelsenkirchener Rechtsanwalts Arndt Kempgens die Möglichkeit, auf juristischem Wege eine umfängliche Arbeitszeiterfassung durchzusetzen.
Allerdings bestehen weiter Unklarheiten. Das Bundesarbeitsgericht hatte unter anderem offen gelassen, ob Arbeitszeiten schriftlich oder digital, etwa mithilfe von Apps, erfasst werden sollen. Inwiefern Arbeitgeber die Nutzung von Zeiterfassungssystemen durch Beschäftigte kontrollieren müssen, steht ebenfalls nicht fest. „Der Gesetzgeber muss nachbessern, um die Unsicherheit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern durch konkrete Vorgaben zu beenden“, meint denn auch Kempgens.