„Blue Marble“ hat Geburtstag

Unsere blaue Murmel: Wie ein Foto vor 50 Jahren das Bild der Erde revolutionierte

The Blue Marble – Earth from space, December 7, 1972.

The Blue Marble – Earth from space, December 7, 1972.

Es ist unmöglich, sich der Schönheit dieses Anblicks zu verweigern. Da schwebt die Erde durch die kalte Unendlichkeit, wie durch kosmischen Zauber in ewiger Balance gehalten, perfekt und rund. Nichts Menschengemachtes ist zu sehen, keine Städte, Straßen, Grenzen, Mauern. Nur das tiefe Blau der Ozeane, das strahlende Weiß der Wolken, das Eis der Antarktis – und ein Zyklon über dem Indischen Ozean. Wie ein Juwel liegt der Planet auf dem schwarzen Samt des Himmels, eine schimmernde, blaue Murmel im Weltall. Ein kostbarer Glücksfall.

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Stark und verletzlich zugleich wirkt die Erde, fragil und vollkommen. Der Nachtschatten liegt komplett auf ihrer Rückseite. Sie strahlt, von der Sonne hell erleuchtet. Das hier ist das Zuhause von damals knapp vier Milliarden Menschen; heute sind es rund acht Milliarden. Es ist eine winzige, unwahrscheinliche Oase des Lebens in der Unwirtlichkeit und grenzenlosen Leere des Universums, nicht mehr als eine „im Ozean des Raums schiffbrüchig herumschwimmende Boje“, wie der Philosoph Günther Anders schrieb.

Die letzten Männer auf dem Mond: Eugene A. Cernan (l.) and Harrison H. ''Jack'' Schmitt im "Apollo 17"-Raumschiff während ihrer Landung auf dem Mond. Schmitt ist - nach einiger Unklarheit - inzwischen als Fotograf des später berühmten Fotos der runden, blauweißen Erde identifiziert.

Die letzten Männer auf dem Mond: Eugene A. Cernan (l.) and Harrison H. ''Jack'' Schmitt im "Apollo 17"-Raumschiff während ihrer Landung auf dem Mond. Schmitt ist - nach einiger Unklarheit - inzwischen als Fotograf des später berühmten Fotos der runden, blauweißen Erde identifiziert.

Am 7. Dezember 1972 um 11.39 Uhr mitteleuropäischer Zeit – fünf Stunden und sechs Minuten nach dem Start der Saturn-V-Rakete vom Kennedy Space Center im US-Bundesstaat Florida – hatte „Apollo 17″-Astronaut Harrison „Jack“ Schmitt einen Blick aus Luke fünf seiner Raumkapsel geworfen und sofort seine Hasselblad-Kamera mit einem Zeiss-80-Millimeter-Objektiv gezückt. Es gab bereits Satellitenbilder vom erleuchteten Erdball, aber nie zuvor hatten Astronauten selbst die gesamte Erde in dieser Klarheit und Pracht fotografiert. Schmitt drückte ab und schoss 29.000 Kilometer von der Heimat entfernt das Foto seines Lebens.

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„Die Mona Lisa der Wissenschaftsfotografie“

Das Motiv mit der nüchternen Nasa-Kontrollnummer „AS17-148-22727″ ging als „Mona Lisa der Wissenschaftsfotografie“ in das kulturelle Welterbe ein, sobald es die Nasa als „Blue Marble“ veröffentlicht hatte. Der Größe des Augenblicks in seiner Erinnerung aber werde „die Fotografie nicht gerecht“, sagte Schmitt später. „Wir sahen die Erde wie das Zuhause der Kindheit, verändert durch den Lauf der Zeit, aber unverändert in den Gedanken.“

Das zweite legendäre Erdfoto: Astronaut Bill Anders fotografierte an Bord der "Apollo 8"-Mission dieses Bild der Erde, die hinter der Mondoberfläche "aufgeht". "Earthrise" wurde ebenfalls zur Ikone.

Das zweite legendäre Erdfoto: Astronaut Bill Anders fotografierte an Bord der "Apollo 8"-Mission dieses Bild der Erde, die hinter der Mondoberfläche "aufgeht". "Earthrise" wurde ebenfalls zur Ikone.

„Apollo 17″ war die elfte bemannte „Apollo“-Mission und der bisher letzte bemannte Flug zum Mond. Schmitt war nicht nur der Fotograf der „Blue Marble“, sondern auch der zwölfte und bisher letzte Mensch, der einen Fuß auf den Mond setzte. Damit schloss sich ein Kreis.

Der Aufgang der Erde kurz vor Weihnachten

Denn bereits auf der ersten bemannten Mondmission „Apollo 8″ (die freilich noch nicht landete) hatte Astronaut William „Bill“ Anders kurz vor Weihnachten 1968 ein Foto geschossen, das den Blick der Menschheit auf ihre Heimat ebenfalls für immer verändert hat: Zart, fast schüchtern, geht über der kaltgrauen Stauboberfläche des Mondes die blauweiße Erde auf, fünf Grad über dem Horizont des Mondes. Das ­„Time Magazine“ zählt „Earthrise“ (Erdaufgang) zu den 100 einflussreichsten Fotografien der Geschichte. Jahrtausendelang hatten die Menschen hinaufgesehen zu den Sternen. Nun sahen sie aus dem All herab auf ihre Erde. Und was sie sahen, wirkte gläsern, sanft und brüchig.

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Die Aufnahme ist ein Produkt des Zufalls. Um ein Haar wäre sie nie entstanden, zumindest nicht in Farbe. „Oh, mein Gott! Seht euch dieses Bild da an!“, rief Anders in seinem Raumschiff. „Hier geht die Erde auf! Mann, ist das schön!“ Ihm gelang es, ein schnelles Schwarz-Weiß-Bild zu machen. „Gib mir einen Farbfilm, schnell!“, sagte er. Dann aber drehte sich die Raumkapsel, die Erde verschwand aus seinem Blickfeld. „Ich glaube, wir haben es verpasst“, sagte er, während Jim Lovell – später bekannt geworden als Krisen-Commander von „Apollo 13″ – nach einem Farbfilm kramte.

Oh, mein Gott! Seht euch dieses Bild da an! Hier geht die Erde auf! Mann, ist das schön!

Astronaut William „Bill“ Anders, "Apollo 8" 1968, beim Anblick der Erde über der Mondoberfläche

Doch dann tauchte die aufgehende Erde Sekunden später wieder im Frontfenster der Mondfähre auf. Anders drückte ab. Nur Stunden später berührten die drei „Apollo 8″-Astronauten das Fernsehpublikum auf der Erde mit einer Liveweihnachtslesung der biblischen Schöpfungsgeschichte aus dem Weltall. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde ...“ Es war – nach einem für die USA düsteren Jahr, in dem Martin Luther King und Robert Kennedy erschossen worden waren – die meistgesehene TV-Sendung. Bis zur Mondlandung im Sommer darauf.

Abschied vom Mond: Seit "Apollo 17" im Dezember 1972 - hier Astronaut Harrison Schmitt mit der US-Fahne - haben keine Menschen mehr den Mond betreten. Insgesamt gibt es bisher zwölf "Moonwalker". Der bisher letzte war Eugene Cernan.

Abschied vom Mond: Seit "Apollo 17" im Dezember 1972 - hier Astronaut Harrison Schmitt mit der US-Fahne - haben keine Menschen mehr den Mond betreten. Insgesamt gibt es bisher zwölf "Moonwalker". Der bisher letzte war Eugene Cernan.

Die beiden ikonischsten Bilder des Planeten Erde stammen also von der ersten und von der letzten bemannten Mondmission. Es ist im Zeitalter von Google Earth und der Instant-Verfügbarkeit von Milliarden Motiven per Mausklick kaum noch nachzuvollziehen, welche Wirkung vor 50 Jahren von „Earthrise“ und „Blue Marble“ ausging. Die Erde galt bis zum Atomzeitalter als unzerstörbares Zuhause. Die verstörende Erfahrung jedoch, den wunderschönen Planeten schutzlos durch das Weltall schweben zu sehen, veränderte jeden, der sie machte. Der US-amerikanische Autor Frank White prägte 1987 den Begriff vom „Overview-Effekt“. Die Symptome: eine tiefe Ehrfurcht, ein neues Bewusstsein für die Menschheit als verwobene Schicksalsgemeinschaft – und ein demütiges Gefühl der Verantwortung für den Planeten.

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Wir brachen auf, um den Mond zu erkunden – aber tatsächlich entdeckten wir die Erde.

Eugene Cernan, „Apollo 17″-Kommandant

„Das war eine der tiefsten, emotionalsten Erfahrungen, die ich jemals gemacht habe“, sagte „Apollo 17″-Kommandant Eugene Cernan nach seiner Rückkehr auf die Erde. „Wir brachen auf, um den Mond zu erkunden – aber tatsächlich entdeckten wir die Erde.“ Ganz gewiss: Niemand, der jemals mit eigenen Augen die leuchtende, kleine Erde aus dem Fenster eines Raumschiffs gesehen hat, wird auch nur das geringste Verständnis aufbringen für Ignoranz und Trotz gegenüber dem Schutz dieses gemeinsamen Lebensraums.

"Wir brachen auf, um den Mond zu erkunden – aber tatsächlich entdeckten wir die Erde": Die Astronauten Eugene Cernan, Ronald Evans und Harrison Schmitt (v. r. n. l.) vor dem Start auf dem Gelände von Cap Kennedy. Sie erreichten an Bord von "Apollo 17" am 11. Dezember 1972 den Mond. Nach drei Mondspaziergängen kehrten sie am 19. Dezember 1972 zur Erde zurück. Mit dem sechsten bemannten Apollo-Flug zum Mond endete das Apollo-Raumfahrtprogramm der Nasa.

"Wir brachen auf, um den Mond zu erkunden – aber tatsächlich entdeckten wir die Erde": Die Astronauten Eugene Cernan, Ronald Evans und Harrison Schmitt (v. r. n. l.) vor dem Start auf dem Gelände von Cap Kennedy. Sie erreichten an Bord von "Apollo 17" am 11. Dezember 1972 den Mond. Nach drei Mondspaziergängen kehrten sie am 19. Dezember 1972 zur Erde zurück. Mit dem sechsten bemannten Apollo-Flug zum Mond endete das Apollo-Raumfahrtprogramm der Nasa.

„Ich habe Astronomie und Kosmologie studiert und verstand nun völlig, dass die Moleküle in meinem Körper, im Körper meiner Kollegen und im Raumschiff aus der Entstehung von Sternen herrührten“, sagt „Apollo 14″-Astronaut Edgar Mitchell im Dokumentarfilm „Overview“. „Und aus diesen Beschreibungen war deutlich: Wir sind Sternenstaub. Und das war einfach überwältigend.“

„Eine einsame Flocke in der kosmischen Dunkelheit“

Wir sind Sternenstaub. Und zwar wir alle. „Eine Eigenschaft des Raumschiffs Erde ist: Keiner kann aussteigen“, schreibt der deutsche Astronaut Ulf Merbold im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Whites „Overview“-Buch. „Wir müssen die Reise durchs All gemeinsam fortsetzen, ob uns alle Mitreisenden sympathisch sind oder nicht.“ Diese Erkenntnis macht den bis heute mächtigen Zauber der beiden Fotografien aus. „Unser Planet ist eine einsame Flocke in der großen umhüllenden kosmischen Dunkelheit“, hat der US-Astrophysiker und Kosmosphilosoph Carl Sagan geschrieben. „In unserer Dunkelheit – in all dieser Weite – gibt es keinen Hinweis, dass Hilfe von anderswo kommen wird, um uns vor uns selbst zu retten.“

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Die Erde im Blick: Seit der ersten Erdbilder haben zahllose Satelliten und Raumfahrtmissionen Fotos der Erdoberfläche geliefert. Hier ist der Kommunikationssatellit Intelsat VI im Mai 1992 aus dem Fenster des Space Shuttles "Endeavour" zu sehen.

Die Erde im Blick: Seit der ersten Erdbilder haben zahllose Satelliten und Raumfahrtmissionen Fotos der Erdoberfläche geliefert. Hier ist der Kommunikationssatellit Intelsat VI im Mai 1992 aus dem Fenster des Space Shuttles "Endeavour" zu sehen.

„Earthrise“ und „Blue Marble“ gelten heute als spirituelle Keimzellen der globalen Umweltbewegung, als Sinnbilder für die schützenswerte Einzigartigkeit der Erde. Der „Erdaufgang“ wurde 1970 zum Symbol für den ersten „Earth Day“. „Blue Marble“ zierte schnell Poster, ­T-Shirts, Banner. Wenige Monate, bevor 1972 „Blue Marble“ entstand, hatte der Club of Rome seinen warnenden Bericht zu den „Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht. Im Juli ging in Stockholm der erste Umweltgipfel über die Bühne. Immer mehr Menschen dämmerte die bedrückende, alarmierende Erkenntnis, dass die Menschheit selbst inzwischen fähig und technisch in der Lage war, den Planeten bis zu einem Zustand der Unreparierbarkeit auszubeuten.

Das Bild ist noch heute eine Anklage

Dieser winzige Punkt im Weltall aber, schrieb Sagan, ist unser Zuhause. „Wir sind das. Darauf hat jeder, von dem ihr je gehört habt, jeder Mensch, der je gelebt hat, sein Leben gelebt. Die Gesamtheit aller unserer Freuden und Leiden, Tausender von sich selbst überzeugten Religionen, Ideologien und ökonomischer Doktrinen, jeder Jäger und Sammler, jeder Held und Feigling, jeder Schöpfer und Zerstörer von Zivilisationen, jeder König und Bauer, jedes verliebte junge Paar, jedes hoffnungsvolle Kind, jede Mutter, jeder Vater, jeder Erfinder und Entdecker, jeder Lehrer der Moral, jeder korrupte Politiker, jeder Superstar, jeder oberste Führer, jeder Heilige und Sünder in der Geschichte unserer Spezies lebte dort auf einem Staubkorn in einem Sonnenstrahl.“

Rückkehr zum Mond: Dieses Bild, veröffentlicht von der Nasa Ende November 2022, zeigt den Mond und die Erde sowie das Raumschiff "Orion" auf dem Weg zum Mond.

Rückkehr zum Mond: Dieses Bild, veröffentlicht von der Nasa Ende November 2022, zeigt den Mond und die Erde sowie das Raumschiff "Orion" auf dem Weg zum Mond.

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Das Bild ist auch 50 Jahre nach seiner Entstehung noch eine Anklage. Die Egozentrik der Menschen, ihr Größenwahn und ihre Allmachtsfantasien, auch die Zerstörungskraft der entfesselten Weltwirtschaft, erscheinen dumm und lächerlich angesichts unserer erschütternden Bedeutungslosigkeit in diesem Kosmos, der selbst ja nur einer von vielen Milliarden Kosmen ist, mit Abermilliarden von weiteren Planeten und Sternen.

Die Erde – das ist das warnende Erkenntniserbe des „Blue Marble“-Fotos – ist sterblich. Sie ist ein winziges, zauberhaftes, verlorenes, fragiles Schmuckstück im Nichts. Und wir müssen wahnsinnig sein, dieses Kleinod in Gefahr zu bringen.

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